New York auf Krücken
Damit der zweite Besuch in der Stadt, die niemals schläft, nicht langweilig wird, habe ich mich diesmal für etwas ganz Besonderes entschieden: New York auf Krücken.
Zu den zehn Dingen, die man kurz vor dem Urlaub nicht tun sollte, gehört in jedem Fall eines – Sport. Aber wer denkt denn schon daran, dass tatsächlich etwas passieren könnte…
Ich jedenfalls, habe nicht daran gedacht, als ich das schöne Frühlingswetter dazu nutzte, um mich in meine Inline-Skates zu werfen – und ratsch! Ganz plötzlich war da dieses klitzekleine Stöckchen inmitten meiner Rollen und der Urlaub schien auf einmal in Gefahr.
Viele Vorteile erhasche ich nicht gerade am Berliner Flughafen und den erwarteten Platz in der ersten Klasse – oder zumindest einen mit mehr Beinfreiheit – bekomme ich trotz Schiene und Krücken ebenfalls nicht. Dafür bringt mir die Stewardess immer wieder neues Eis zum Kühlen, eingepackt in die Airberlin-Spuckbeutel. Am John F. Kennedy-Flughafen von New York erlebe ich das ganze Gegenteil – überall werde ich vorgelassen. Die Afroamerikanerin an der Passkontrolle ruft ihren hispanoamerikanischen Kollegen solange, bis er endlich auf sie hört, und mich ebenfalls an der Schlange vorbeilässt. Nach weiteren zwei Stunden im Taxi sind wir endlich in unserem Airbnb inmitten von Chinatown und beginnen den von nun an etwas langsamer verlaufenden Besuch New Yorks bei köstlichen Dim Sum. Die kleinen gedämpften oder frittierten Häppchen, die ursprünglich in den Teehäusern auf der Seidenstraße als Wegzehrung gereicht wurden, sind genau das Richtige, um das schmerzende Knie für eine Weile zu vergessen.
Beim sehr gemächlichen zweiten Erkunden Manhattans ernte ich viele mitleidige, teilweise angewiderte und sogar völlig schockierte Blicke. Ich bin der Kinderschreck und werde von nahezu jedem auf mein ramponiertes Knie angesprochen. Eine augenscheinlich sehr angetrunkene Passantin brüllt mir gleich am ersten Tag hinterher, ich solle doch unbedingt einen Doktor aufsuchen, ein alter Mann im One World Trade Center schaut eine gefühlte Ewigkeit auf meine Wunden und Schwellungen und fragt mich dann vorsichtig, ob ich schon operiert worden sei und ein deutsches Ehepaar, das meinen Freund um einen Schnappschuss bittet, hat etwas parat, das mich ganz bestimmt aufmuntern wird. Ich erwarte mindestens einen Lolli, aber dann zieht der Mann seine Hose hoch und zeigt mir seine Wunde am Schienenbein – seit August hat er die nun schon, sie will einfach nicht zuwachsen, na ob ich mich nun besser fühle …
Wir wagen den Aufstieg zum neuen One World Trade Center, zum Glück bringt uns ein Fahrstuhl innerhalb kürzester Zeit in den 102. Stock. 9/11 wird in dieser neuen Touristenattraktion bewusst verschwiegen und man ist sichtlich stolz, nun wieder das höchste Gebäude der westlichen Hemisphäre zu haben. Bevor der Ausblick aus 417 Metern Höhe freigegeben wird, gibt es eine in meinen Augen übertrieben kitschige Videoprojektion zur Stadt New York und dann öffnen sich die Jalousien für einen ganz kurzen Augenblick. Es folgt: Applaus, für wen bloß, frage ich mich. Endlich geht es zur Aussichtsplattform, zu großen Teilen besteht sie aus einem Restaurant und Souvenirläden, nichtsdestotrotz ist der Ausblick selbstverständlich atemberaubend. Anders als beim Empire State Building steht man hier hinter Glas, das ist wahrscheinlich auch besser so und jeder kann so in Ruhe seine ‚Selfies‘ schießen, ohne vom Winde verweht zu sein. Ich bin froh, als wir wieder unten sind, wo mich das Denkmal zum elften September auch beim zweiten Innehalten unglaublich berührt.
Weiter geht es zu dem von uns so geliebten Bryant Park, wo sich zur Mittagspause wirklich jeder schick angezogen auf der Wiese in der Sonne zum ‚Lunch‘ versammelt hat. In der Schlange an der Parktoilette werde ich wieder einmal auf mein Knie angesprochen und eine alte Dame möchte mir doch tatsächlich ihre abgelegte Bandage anbieten. Hilfsbereitschaft ohne Grenzen, davon können wir uns eine Scheibe abschneiden. Auch der Times Square muss ein zweites Mal bestaunt werden, überwiegend im Sitzen versteht sich.
Der zweite New-York-Besuch gipfelt in einem unbeschreiblichen und einmaligen Konzerterlebnis am Broadway. Ute Lemper spielt ihr aktuelles Programm „The 9 Secrets“ – basierend auf den Texten von Paulo Coelhos „Die Schriften von Accra“ hat sie ein Arrangement auf die Beine gestellt, das uns sowohl musikalisch als auch inhaltlich den Atem verschlägt. Musiker aus der ganzen Welt untermalen ihren berührenden Gesang auf Deutsch, Jiddisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch und Arabisch. Die drei Weltreligionen sollen vereint werden in diesem Programm, hinterlegt von einer beeindruckenden Videoprojektion Volker Schlöndorffs. Am Ende gratulieren wir ihr zu der großartigen Show und scheinen beinahe die Einzigen zu sein, die wissen, dass wir eine deutsche Künstlerin vor uns haben.
Gekrönt von einer Taxifahrt samt kurzem Abriss der Stadtgeschichte endet unser zweiter Aufenthalt in der Stadt, die niemals schläft und der trotz aller Begeisterung bringt es der indische Taxifahrer auf den Punkt, indem er uns mit auf den Weg gibt: „Ihr in Berlin habt die Geschichte, New York macht ihre gerade erst.“
Am nächsten Tag geht es per Inlandsflug weiter nach New Orleans, von ‚Big Apple‘ nach ‚Big Easy‘ – sehr viel entspannter also für mein kaputtes Knie. Davon im nächsten Teil mehr.
Fotos: Privat