Ein Jahr ist nichts

Ein Jahr ist nichts, wenn man’s verputzt,
ein Jahr ist viel, wenn man es nutzt.
Ein Jahr ist nichts; wenn man’s verflacht;
ein Jahr war viel, wenn man es ganz durchdacht.
Ein Jahr war viel, wenn man es ganz gelebt;
in eigenem Sinn genossen und gestrebt.
Das Jahr war nichts, bei aller Freude tot,
das uns im Innern nicht ein Neues bot.
Das Jahr war viel, in allem Leide reich,
das uns getroffen mit des Geistes Streich.
Ein leeres Jahr war kurz, ein volles lang:
nur nach dem Vollen mißt des Lebens Gang,
ein leeres Jahr ist Wahn, ein volles wahr.
Sei jedem voll dies gute, neue Jahr.

Hanns Freiherr von Gumppenberg (1866-1928)

 

Das Gedicht „Ein Jahr ist nichts“ liest sich als Resümee eines Jahres. Der aus einer Strophe bestehende 14-Verser ist im Paarreim mit einem vier- bis fünf-hebigen Jambus verfasst.

Die ersten fünf Strophen beginnen mit der Anapher „Ein Jahr“, das anschließend in seinen Wert unterteilt wird: So kann es „nichts“ (V. 1 und 3) oder „viel“ (V. 2 und 4) bedeutet haben, je nachdem ob man es „verputzt“ (V. 1) oder „genutzt“ (V. 2) hat. In dem Gedicht, das wird schnell klar, geht es um die persönliche Bwertung eines Jahres, um die Lebensqualität, die einem diese zwölf Monate boten, oder – im schlimmeren Fall – die reine Quantität der vergangenen Zeit. Denn so heißt es weiter: „Ein Jahr ist nichts; wenn man’s verflacht“ (V. 3). Bereits in diesem Vers wird das Motiv des carpe diem deutlich. Nutze den Tag, lautet die Devise, denn andernfalls ist er nichts wert, „verflacht“, ohne Substanz oder Erinnerungen, sondern schlichtweg konturlos.

Ein wertvolles Jahr hingegen, ein Jahr, das „viel“ bewogen hat, ist eines, das „ganz durchdacht“ (V. 4) war, in dem man „ganz gelebt“ (V. 5) hat. Wechselte sich zuvor eine negative mit einer positiven Konnotation ab, so folgen in diesen beiden Versen zwei gute Definitionen aufeinander. Sie zeugen davon, dass ein jeder das Glück eines Jahres in seinen eigenen Händen hält, sein Leben selbst bestimmt. Das Jahr „in eigenem Sinn genossen und gestrebt“ (V. 6) zu haben, soll das Ziel sein.

Was ein misslungenes Jahr ausmacht, auch das weiß der Erzähler: Denn ein Jahr ist erst dann „bei aller Freude tot, das uns im Innern nicht ein Neues bot“ (V. 7 und 8). Die aus „Freude“ und „tot“ gebildete Antithetik des siebten Verses unterstreicht, dass Freude nur aus Veränderung und Abwechslung heraus erwachsen kann. Es muss uns „ein Neues“ bieten, etwas Anderes als die Jahre zuvor. Das stilistische Mittel der Gegenüberstellung gegensätzlicher Zusammenhänge wird auch in den folgenden zwei Versen fortgeführt. Hier heißt es: „Das Jahr war viel, in allem Leide reich, das uns getroffen mit des Geistes Streich“ (V. 9 und 10). Nicht Freude allein macht ein Jahr zu einem guten Jahr, sondern auch Leid, aus dem wiederum etwas Positives erwächst, wie ein „Geistes Streich“ (V. 10). Aus den eigenen Fehlern zu lernen ist die Moral dieses Verses.

Und so setzt der Erzähler zu seinem Fazit an: „Ein leeres Jahr war kurz, ein volles lang“ (V. 11). Der Parallelismus betont die Gewichtung eines Jahres anhand seiner Geschehnisse. Nur, wer viel erlebt hat, wird auf eine erinnerungswürdige Zeit zurückblicken können, die – aus der Aneinanderreihung vieler Jahre – letztlich auch ein gutes Leben definieren wird. Aus dem Vollen zu schöpfen ist schließlich auch die Empfehlung des zwölften Verses. Denn so heißt es weiter: „ein leeres Jahr ist Wahn, ein volles wahr“ (V. 13). Wer nicht mit allen Sinnen lebt, der wird sich nicht an die verbrachten Jahre erinnern können, wird die Tage als fern, verschwommen, also wie im „Wahn“ erlebt im Gedächtnis behalten.

Und so schließt der Erzähler den Wunsch an den Leser gerichtet an: „Sei jedem voll dies gute, neue Jahr“ (V. 14).


Hanns von Gumppenberg, Bild: Wikipedia, gemeinfrei

Hanns Freiherr von Gumppenberg wurde 1866 als Spross eines bayerischen Adelsgeschlechts in Landshut geboren. Seiner Herkunft entsprechend genoss er eine gute Ausbildung und begann schon früh, sich für die Dichtkunst zu interessieren. Nach einem kurzen Versuch, Jura zu studieren – der dem Wunsch nach besseren beruflichen Aussichten geschuldet war – kehrte er doch zu seiner Leidenschaft, der Literatur, zurück. Seit 1901 war er unter anderem als Theaterkritiker, Schriftsteller, freier Journalist und Lektor tätig. Im selben Jahr begann er auch, unter dem Pseudonym Jodok vorwiegend parodistische Lyrik zu veröffentlichen.

Von Gumppenberg stirbt, verarmt durch die Folgen des Ersten Weltkrieges, 1928 an einer Herzkrankheit in München.