„Les rêveries du promeneur solitaire“ – Teil I
Jean-Jaques Rousseau ist zweifellos einer der wesentlichen Autoren der Epoche der Aufklärung. Diese Rolle ist ihm zweifelsohne zuzuerkennen. Dabei suchte Rousseau in seinem Schaffen und Denken oftmals die Opposition zu seinen Zeitgenossen, was ihn als kritisch-reflektierten Gegenpol einer fortschrittsgewandten Gesellschaft charakterisiert. Neben seiner Kritik an dem Selbstverständnis der intellektuellen Elite und der Weiterentwicklung der hobbesschen Vertragstheorie, ist auch sein Einfluss auf die Erziehungspädagogik herauszustellen. Das aber wohl persönlichste Werk stellt Les rêveries du promeneur solitaire dar. Ein Werk, welches schon aufgrund seiner chronologischen Einordnung in die Biografie des Autors besondere Qualität besitzt, denn es handelt sich um sein letztes Werk. Auch die Umstände, in denen es entstand, sind erwähnenswert. Rousseau befand sich, während er die rêveries verfasste, in einem Zustand der geistigen Umnachtung, der bei Interpretation des Werks nicht unbeachtet bleiben sollte. Auf diesen speziellen Zustand Rousseaus wird im Folgenden noch eingegangen werden. Was ist nun also der Gegenstand dieser Arbeit? Es soll untersucht werden wie sich Rousseau als getriebener, enttäuschter, verlassener Mensch die Gesellschaft betrachtet. Er begibt sich, zugegebenermaßen teils freiwillig, in einen Zustand der gesellschaftlichen Isolation oder anders, eines modernen Einsiedlertums. Man könnte meinen Rousseau würde nun zu einem großen Teil gegen seine Zeitgenossen hetzten und die Gesellschaft als solche verteufeln, dies ist auch zum Teil der Fall. Dennoch reflektiert er über das menschliche Dasein in einem Zustand der von ihm gedachten vollständigen Isolation, welches ein höchst interessantes Gedankenspiel darstellt. In denke, dass dieser Zustand eine durchaus relevante Aktualität in sich trägt. In einer modernen Kommunikationsgesellschaft, was ist der Mensch, wenn er ebenjener Kommunikation, jener Gesellschaft beraubt, ja auf sich selbst zurückgeworfen wird? Was ist also der Mensch als solches ohne die Möglichkeit sich von anderen abzugrenzen, ohne die Möglichkeit sich von der Meinung anderer abhängig zu machen? Führt diese soziale Stellung zu einer Selbstidentität wie Rousseau sie sich in seinen Schriften als Ideal für den Menschen vorgestellt hatte? Diese Fragen exhaustiv zu beantworten liegt zweifellos außerhalb der Möglichkeiten dieser Arbeit.
Ich möchte jedoch einen besonderen Aspekt aus Rousseaus „Träumereien“ herausgreifen und auf diesen näher eingehen, nämlich den Aspekt der Gesellschaftlichkeit. Dabei wird die hermeneutische Methode Anwendung finden, denn wie bereits angerissen, sind die rêveries nur durch einen Rückgriff auf Rousseaus Biografie und Wirkungsgeschichte zu verstehen. Grundlage der Untersuchung bildet dabei Rousseaus erste „Träumerei“, die am deutlichsten mit einem Verständnis von Gesellschaft aufwartet.
Über Rousseaus Gesellschaftsverständnis in früheren Werken
Um Rousseaus Verständnis von Gesellschaft in seiner ersten „Träumerei“ richtig deuten zu können, halte ich es für notwendig, seine bisherigen Überlegungen über diesen Gegenstand heranzuziehen. Es könnte durchaus erhellend sein, ob und wie sich Rousseau von seinen bisherigen Konzeptionen in den rêveries entfernt. Auch aufgrund des hohen biografischen Gehalts des zu betrachtenden Werks erscheint eine solche Vorgehensweise sinnvoll.
Zur Biografie des Autors
Rousseaus Leben ist von einem hohen Maß an Widersprüchlichkeit oder besser Ambivalenz geprägt. Dabei stehen Rousseaus Anspruch an den Menschen mit seinem eigenen Handeln in keinerlei Verhältnis, höchstens in einem Negativen. Wie bereits erwähnt, ist Rousseaus Biografie durchzogen von scheinbaren Widersprüchlichkeiten, insbesondere in Bezug auf den Anspruch, den er an den Menschen und die Gesellschaft stellte und sein dem konterkarierendes eigenes Handeln. Interessant ist, dass Rousseau über keine Bildung im klassischen Sinn verfügte und sich sein Wissen größtenteils autodidaktisch aneignete. Dies könnte ein Grund sein aus dem Rousseau gegenüber der
Bildungselite sehr kritisch eingestellt war. (vgl. Hinsch 2004: 355-356) Zur Exemplifizierung von Rousseaus Dualismus in Denken und Handeln möchte ich Folgendes anbringen: Als Verfasser der pädagogischen Schrift Émile ou De l´éducation predigte er eine anspruchsvolle Erziehung aus der Perspektive des Kindes, überlässt es jedoch Anderen, seine eigenen Kinder zu erziehen. (vgl. Spaemann 2008: 10) Er veröffentlichte Beiträge in einer der relevantesten geisteswissenschaftlichen Publikationen seiner Zeit, der Encyclopédie, überwarf sich jedoch mit seinen Herausgebern und ging in den 1760er Jahren ins Exil nach Neuchâtel. (vgl. Hinsch 2004: 355-356) Mit diesem
Exil und der Abwendung seiner Zeitgenossen von ihm ging ein Wahnzustand Rousseaus einher, der an Paranoia grenzte. In diesem Geisteszustand schrieb Rousseau Les rêveries du promeneur solitaire, als ein von der Gesellschaft verstoßener, einsamer Mensch, zumindest in seiner eigenen Einschätzung.
Zum Gesellschaftverständnis
Nicht nur in Rousseaus Biografie lässt sich ein stringenter Dualismus ausmachen, auch sein Werk ist von dualistischen Gegenüberstellungen geprägt. Grundsätzlich lassen sich bereits in der Rezeption Rousseaus zwei verschiedene Strömungen ausmachen. Zum einen wird unterstellt, Rousseaus Werk besitze keinen stringenten Aufbau, ließe sich also nicht auf einen einheitlichen Überbau reduzieren und somit könne man auch nicht von einem Gesamtwerk sprechen. Zum anderen wird durch den ambivalenten Charakter Rousseaus Werk als solches definiert. Das einheitliche Element in Rousseaus Werk ist also die immerwährende Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven. Einheitlichkeit in Vielfalt, Dialektik. (vgl. Spaemann 2008: 23-24) Sicherlich trägt auch Rousseaus Methodik zu diesem konträren Verständnis bei. Rousseaus Ausgangspunkt ist die Fülle seiner eigenen Erfahrungen, die er in einer verallgemeinernden Art auf eine Gesellschaft überträgt. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer „private[n] Phänomenologie“ (ebd.: 25) sprechen.
Wie bereits erwähnt, ist das rousseausche Gesellschaftsverständnis ein dualistisches. Rousseau verwendet dabei zwei klare und einen vermischten Begriff. Dabei betrachtet er den Menschen als solches, also als Naturwesen. Dieser homme naturelle ist als ein theoretisches Konstrukt Rousseaus zu verstehen, der den Menschen als asoziales und sprachloses Wesen darstellt. Dies aber nicht in einem Negativen normativen Sinn, sondern als konsequentes Wegdenken allen zivilisatorischen Einflusses. Dieser Naturmensch ist in der Lage seine Interessen vollkommen autark zu befriedigen und lebt so in keinerlei Abhängigkeitsverhältnissen. (vgl. Spaemann 2008: 32) Der Naturmensch ist dabei als radikale Abstraktion zu verstehen. (ebd.: 120) Dem gegenübergestellt ist der citoyen, der Bürger als Teil eines nicht natürlichen Systems, in dem er vollkommen aufgeht, also die Eigeninteressen nationale Interessen sind. Der Bürger ist als Teil eines starken Nationalstaates zu denken, dessen ideologischer Einfluss seine Bürger zur Gänze vereinnahmt. (vgl. ebd.: 28-30) Rousseau spricht jedoch beiden Typen ihre empirische Bedeutung ab. Dem homme naturelle, da eine vollkommene Rückkehr zur Natur nicht möglich und nach Rousseau auch nicht wünschenswert ist. Dem Bürger, da für Rousseau der Begriff eines nationalen Bewusstseins ein sinnentleerter ist. Der Begriff existiert in der Empirie schlicht nicht mehr. Als Archetyp der Mischung von homme naturelle und citoyen benennt Rousseau den Bourgeois der seine natürlichen Bedürfnisse kaschiert um sich so gesellschaftlichen Zwängen untertan zu machen. Dabei kann diese Kategorie des Bourgeois wohl als herbe Kritik an dem Selbstverständnis von Rousseaus Zeitgenossen verstanden werden. Der Bourgeois ist als ein Zwitter, als ein zerrissenes Wesen zwischen „Pflicht und Neigung“ (Spaemann 2008: 35) dargestellt. Hierbei sind die Selbstreferenzialität des natürlichen Menschen und dessen soziale Unverträglichkeit gepaart mit der Abhängigkeit von den Meinungen anderer. Der Bourgeois muss sich also entgegen seiner ursprünglichen Disposition einen gesellschaftlich verträglichen Anschein geben. (vgl. ebd.: 35) Es paart sich im Bourgeois die rohe Triebhaftigkeit des natürlichen Menschen mit der Abhängigkeit des Bürgers von der Gesellschaft.
Wie ist dieses Dilemma des modernen Menschen aufzulösen? Eine moderne Gesellschaft führt nach Rousseau zu neuen menschlichen Bedürfnissen, die ihn (den Menschen) dadurch in zusätzliche Abhängigkeiten treiben, um ebenjene neu entstandenen Bedürfnisse zu befriedigen. (vgl. ebd.: 56) Die Problematik entsteht aus der Diskrepanz von Existenz (Sein) und Schein. Rousseaus hat eine Auflösung dieser Diskrepanz im Blick. Dabei sind beide Extreme, sofern sie absolut umgesetzt werden eine Möglichkeit diesen Zwiespalt aufzulösen. Also liegt „sowohl in der Rückkehr des Menschen zur Natur als auch in der totalen Denaturierung des Menschen zum Bürger eine Lösung“. (ebd.: 58) Wenn alles Schein ist, ist der Schein zum Sein geworden. Entgegen einer geläufigen Interpretation des rousseauschen Werks propagiert er nicht eine Rückkehr zur Natur, da die Natur für Rousseau auch defizitär scheint, sondern vielmehr einen kalkulierten Rückzug aus der Gesellschaft in Verbindung mit der Loslösung von gesellschaftlichen Zwängen. (vgl. Spaemann 2008: 44) Wenn das Sein absolut wird, existiert nunmehr der Schein nicht mehr.
Was bedeutet dies? Rousseau plädiert meiner Ansicht nach für eine Gesellschaft mit offenem Visier, in der der Mensch aufrichtig mit seinen Mitmenschen umgeht und somit die innere Zerrissenheit durch die Identität von Sein und Wollen einerseits und von Selbstbild und dem eigenen Handeln andererseits aufgelöst wird. Dieser Typus Mensch soll durch die von Rousseau im Émile propagierte natürliche Erziehung entstehen. Durch eine Erziehung aus der Perspektive des Kindes, die die Leidenschaften mit den Bedürfnissen in einer vertretbaren Balance hält. Durch die volle Entfaltung des Menschen ist es, zumindest nach Rousseau, möglich den Menschen vor seiner inneren Zerrissenheit zu bewahren. (vgl. Spaemann 2008: 110-111)
Wie lässt sich dieser Anspruch nun konkret auf eine Gesellschaft beziehen? Eine Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft entsteht erst durch die Arbeitsteilung, die zur Folge hat, dass jedes Individuum nur seine eigenen Interessen verfolgt und Fähigkeiten ausübt. Dies führt zu einer Selbstentfremdung des Menschen. Somit wäre eine entmaterialisierte Gesellschaft vonnöten, um diese Ungleichheiten auszugleichen und so kann man Rousseau durchaus als Vorläufer von Marx verstehen. (vgl. ebd.: 61-62; 77) Rousseau bietet auch hier wieder zwei Lösungsmodelle an. Er entwickelt seinen bereits aufgegriffenen Nationalgedanken weiter und macht diesen zur Grundlage
sozialer Homogenität, um gemeinsame ethisch gute Ziele zu erreichen. Somit treten die Einzelinteressen zugunsten eines Kollektivs zurück. Der Konsens aller setzt aber eine ähnliche Denkweise innerhalb der Gesellschaft voraus. (vgl. Hinsch 2004: 373) Dies wäre eine Vorbedingung für eine funktionierende Gesellschaft nach rousseauschen Maximen. Da aber Rousseau bereits den Gedanken einer nationalen Identität verworfen hat, verstehe ich seinen Gesellschaftsvertrag eher als theoretisches Modell, dem er selbst nur geringe Chancen auf Durchsetzung einräumen würde. Auch wird deutlich, dass Rousseau den Naturzustand nicht romantisch verklärt, denn der Staat ist notwendig, um die negativen Auswirkungen des Naturzustandes abzuschwächen. Rousseau hat in seiner Konzeption also die „vollkommene Verschmelzung des Bürgers mit dem Gemeinwesen“ (vgl. Herb 2006: 303) im Blick. Somit lässt sich auch im contrat social Rousseaus vorher formuliertes Gesellschaftsverständnis wiederfinden. Der Mensch sollte sich nur in einer Dimension bewegen, entweder in der Natur oder in der Politik (Gesellschaft). Wenn dies nicht der Fall ist, führt das zu einer inneren Zerrissenheit des Menschen. (vgl. Spaemann 2008: 108) Es wird nach den erfolgten Betrachtungen deutlich, dass Rousseau ein Autor des Gegensatzes ist. Nicht im dem Sinne, dass seine verschiedenen Konzeptionen miteinander in Widerstreit lägen, sondern vielmehr, dass seine Konzepte durchweg Ambivalenzen aufweisen. Bemerkenswert ist, dass von der Polemisierung des Bourgeois einmal abgesehen, Rousseau das teleologische Ziel nicht normativ auflädt. Soll heißen: wie der Mensch zu sich selbst findet ist ihm egal, nur, dass er es sollte, postuliert er.
Foto: Michael Ottersbach // https://www.pixelio.de/media/803097
Literatur
Herb, Karlfreidrich: Vom Gesellschaftsvertrag, in: Manfred Brocker (Hrsg.), Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch, Frankfurt am Main 2006: 303-317.
Hinsch, Wilfried: Die volonté générale, in: Ansgar Beckermann (Hrsg.) und Perler, Dominik (Hrsg.), Klassiker der Philosophie heute, Stuttgart 2004: 355-375.
Meier, Heinrich: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries in zwei Büchern. München 2011.
Rousseau, Jean-Jacques: Träumereien eines einsamen Spaziergängers (1959). Stuttgart 2003.
Spaemann, Robert: Rousseau – Mensch oder Bürger. Das Dilemma der Moderne. Stuttgart 2008.