Drei Wochen als Pfarrer in Eisenach haben meine Sprache verändert.
Wenn ich zurückschaue, kommt es mir wie ein Traum vor. Vier Wochen lang war ich Stadtpfarrer in Eisenach und Pfarrer auf der Wartburg zu Eisenach. Die Burg gehört zur Annengemeinde in der Weststadt zusammen mit dem Ehrensteig und der Stiftung Annen, die von der Landgräfin Elisabeth gegründet wurde.
Im Frühling 2021 hatte Corona das Land Thüringen noch fest im Griff. Es war kühl, oder sogar kalt für Monat März. Die Märzenbecher im Hainichen begannen spät zu blühen, aber dann um so reicher. Überall herrschte ein strenger Lock down. Die Geschäfte waren geschlossen, ebenso Gaststätten und Hotels. Nur die lebensnotwendigen Läden, wie Einkaufszentren, Lebensmittelläden und Bäckereien hatten geöffnet. Aber natürlich durften immer nur ein oder zwei Kunden mit Schutzmaske den Laden betreten. Alle Konzerte und Feste waren abgesagt. Gottesdienste durften stattfinden, aber auch nur mit strengen Hygieneauflagen.
Und ich war trotzdem vier Wochen dort, habe die Wartburg erlebt, stand am Burschenschaftsdenkmal, reiste zum Mittelpunkt von Deutschland und stand erschüttert an der Brücke der Deutschen Einheit in Vacha. Jeden Sonntag hielt ich Gottesdienst in der Annenkirche und feierte dort auch den traditionellen „Sommergewinn“ am Sonntag Lätare.
Und trotzdem – so hatte ich Deutschland noch nie erlebt, denn das Land war offen, der Frühling kam und trotz allem waren Begegnungen mit Menschen möglich.
Auch wenn niemand es aussprach, hörte ich immer wieder den Ruf „Wir sind ein Volk!“
So stand es an den ehemaligen Wachhäusern an der innerdeutschen Grenze, so riefen die Bilder an den Fassaden in Mühlhausen und so spürte ich auch die Gemeinschaft mit meiner Gemeinde am Sonntag im Gottesdienst.
Ich bin kein Theologe und studierter Pfarrer. Ich bin seit 2000 Prädikant in der Badischen Landeskirche. Eigentlich müsste meine Aufgabe viel zu groß sein und trotzdem durfte ich ehrenamtlich den Pfarrer der Annengemeinde in Eisenach vertreten.
Für mich war Eisenach, die Stadt mit der Wartburg. Dort hatte Luther die Bibel übersetzt. So hatte ich es immer wieder gehört und auch die Wartburg besucht.
Zur Wartburg gehörte für mich auch immer die Landgräfin Elisabeth, die mit großem Mut und viel Glauben den Armen half.
Beide waren Gestalten, die wichtig waren, aber sie waren wie Märchenfiguren aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt.
Jetzt war ich hier an der Wartburg und verstand, warum die Wartburg so eine große Bedeutung hat.
Ich lebe seit 50 Jahren ganz im Süden, lange Jahre direkt an der Schweizer Grenze. Mit viel Interesse lernte ich den Schwarzwald kennen, die Schweizer Alpen, auch die Habsburg und die gemeinsamen Wurzeln der Völker. Vergeblich versuchte ich auch die Sprache zu meiner eigenen zu machen. Trotz aller Bemühungen blieb meine Sprache westfälisch, auch wenn sich der Sprachklang nach und nach änderte. Ich verstand den schönen alemannischen Dialekt, aber ich konnte ihn nicht sprechen, obwohl meine Wurzeln in der Schweiz waren, denn einer meiner Großväter kam aus Bern nach Deutschland.
2005 erhielt ich ein Angebot der Zehntgemeinschaft Jerichow mitzuarbeiten.
Jerichow an der Elbe? Ein weiter Weg für einen Prädikanten aus dem Süden. Aber ich wagte es, denn der andere Großvater kommt aus der Uckermark. Er war Pfarrer beim Grafen v. Arnim in Boitzenburg. Durch die Teilung Deutschlands hatte ich meine Verwandtschaft in der DDR nie besuchen können. Nun boten sich Möglichkeiten.
Mit Herzklopfen übernahm ich den ersten Dienst in Dahme am Fläming. Jetzt half mir meine westfälische Sprache, denn ich wurde selbstverständlich verstanden.
Zwar spürte ich den Unterschied zwischen Ost und West sehr deutlich.
Jetzt nach 16 Jahren ist der Unterschied deutlich geringer geworden.
Viele Menschen kennen meine Heimat und sind dort gewesen. Am Anfang hörte ich oft: „Warm kommen Sie her, wenn Sie dort wohnen dürfen?“
Jetzt höre ich nur noch von schönen Urlaubserinnerungen und so will sich der Schwarzwald auch präsentieren. Nur umgekehrt gibt es in meiner Heimat noch Erstaunen, warum ich so gerne in den „Osten“ fahre. Ich erzähle dann von Mitteldeutschland, von den Kulturstätten, von der Weite, von den wunderschönen Urlaubsorten. Aber ich spüre auch immer noch, dass den Menschen das Land fremd geblieben ist.
Es gibt noch viel zu tun!
Auf der Fahrt nach Wanfried sah ich in der Nähe von Trefford ein Hinweis auf die alte Grenze: Hier war bis zum 9.November 1989 Europa geteilt!
„Europa geteilt!“ Das hat mich sehr beeindruckt. Wir oft lese ich: „Wir sind ein Volk!“ auf der Thüringer Seite. In Vacha habe ich an der Werra die alte Brücke der Via regia gesehen. Eine Brücke über die Werra verbindet Thüringen und Sachsen seit jeher. Dort waren noch Spuren der Grenzbefestigungen, die einen Grenzverkehr unmöglich machten.
Die Zeit auf der Wartburg hat mich aufmerksamer werden lassen. Wir Deutschen müssen weiter zusammenwachsen im Herzen Europas.
Das ist eine Aufgabe. Eine aufmerksame Sprache wird dabei helfen. Hier habe ich gelernt, mehr als bisher auf den Klang der Sprache zu achten. Deutsch sollte nicht geschrien werden. Es ist eine Sprache, die Musik besitzt. J.S. Bach hat das sehr genau empfunden. Seine Choräle Kantaten und die vielen anderen Werke werden hier gepflegt. Überall stehen Orgeln, mit denen man Choräle hören kann. Ich habe meine Freude daran, wie oft die Orgeln hier erklingen. Deutsch sollte gesungen werden.
Die Sprache formt das Denken und umgekehrt. Was ich ausspreche und höre, klingt zurück über das Ohr. Eine klare Sprache ist ganz wichtig.
Mit Freude nehme ich hier wahr, wie oft in Leserbriefen auf Denkfehler oder Sprachfehler hingewiesen wird. Und das in einer Zeit, in der man nur selten eine fehlerfreie Mail bekommt, weil eben alles ganz schnell gehen muss.
Warum eigentlich? Wir haben Zeit und wir brauchen Zeit. Wir sind keine Computer. Wir haben einen Körper, der eine gewisse Geschwindigkeit mitmachen kann, aber nicht mehr. Warum schneller, wenn doch das Denken nicht mehr mitkommt? Schnelle Entschlüsse sind kurzlebig, gute Gedanken brauchen Zeit.
Auch das habe ich hier an der Wartburg gelernt.
Martin Luther und Philipp Melanchton haben manchmal eine ganze Woche über ein Ort gestritten, neue Worte gefunden, um Gefühle und Glauben auszudrücken. Die Wortschöpfungen gelten heute noch, weil sie sorgfältig überlegt waren.
Wenn ich in den Schwarzwald zurückkehre, werde ich so viel ich kann, von meinen Erfahrungen weitergeben.
Thüringen, das grüne Herz von Deutschland, das ist nicht nur geografisch richtig.
Ein Beitrag von: Gottfried Zurbrügg
Fotos: Eigene Aufnahmen