Die letzten Zeugen
Seit einigen Wochen finden sich ihre Früchte wieder vermehrt auf dem Boden. Die Eiche ist wohl der „deutscheste“ Baum schlechthin, obwohl die dritte Bundeswaldinventur im Jahr 2012 ergab, dass Eichen in Deutschland nur 11,6 % der gesamten Waldfläche einnehmen. Trotzdem ist die Eiche nach der Rotbuche der am zweithäufigsten vorkommende Laubbaum. Mit 30 bis 50 m erreicht sie eine stattliche Größe. Die dickste deutsche Eiche wies im Jahr 2020 einen Rekordumfang von 13,16 m auf; so dick, dass man sie als durchschnittlicher Erwachsener nicht mehr umarmen kann. Insgesamt kennen wir über 400 verschiedene Eichenarten.
Ein Drittel davon ist jedoch vom Aussterben bedroht. Die Ergebnisse der jüngsten Waldzustandserhebung vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft aus dem Jahr 2023 sind erschreckend. Bei dieser Stichprobenerhebung wird der Zustand der Baumkronen unterschiedlicher Baumarten in deutschen Wäldern erfasst. Viele der eigentlich immergrünen Bäume tragen keine Kronen mehr. Übrig bleiben unbelaubte Baumskelette. Nur 20 % der untersuchten Bäume hatten eine gesunde Krone. Von den verbreitetsten Arten, darunter auch die Eiche, sind vier von fünf Bäumen krank. Dabei können Eichen wie viele andere in Deutschland heimische Bäume eigentlich ein biblisches Alter von über 1.000 Jahren erreichen. Das schließt die in Deutschland durchschnittliche Lebenszeit von 13 Menschen ein. Solche Baumgreise überleben damit bis zu 30 Menschengenerationen. Viele von ihnen standen schon, bevor der Erste Weltkrieg überhaupt begonnen hat. Umso trauriger wirkt im Vergleich dazu der stolze Rekord, einen der widerstandsfähigsten Bäume innerhalb kürzester Zeit in die Knie gezwungen zu haben. Damit sind nicht nur eine enorme Menge an weiteren Pflanzen und Tieren in Gefahr, sondern auch ein unschätzbares Kulturgut.
Bereits vor 12 Millionen Jahren gab es Eichen in der Niederrheinischen Bucht. In alten Religionen, Mythen und Sagen galt die Eiche als heiliger Baum und stand sinnbildlich für die Ewigkeit, Stärke, Wahrheit und Kraft. In vielen Hochkulturen, darunter in der der Römer, Griechen, Kelten und Germanen, wurden Eichen dem obersten Gott geweiht. Bis heute zeugen Funde, die im Museum von Ioannina in Griechenland ausgestellt sind, von den religiösen Praktiken in der antiken Stadt Dodona, wo sich die legendäre Orakeleiche befand. Aus dem keltischen Wort für Eiche „dair“ entwickelte sich beispielsweise der Begriff Druide, die Bezeichnung für einen keltischen Priester. Sowohl bei den Kelten als auch bei den Germanen stand auf das Fällen einer Eiche die Todesstrafe. Im Christentum wird sie als Lebensbaum angesehen. In der Gotik und frühen Neuzeit war sie auf vielen Bibeleinbänden Motiv. Dennoch war sie den christlichen Missionaren des Mittelalters ein Dorn im Auge. So wurde beispielsweise die bekannte Donaueiche, die in der Nähe von Kassel gestanden haben soll, 723 n. Chr. gefällt, um die Machtlosigkeit der alten Götter zu demonstrieren. Wegen ihrer religiösen Bedeutung war die Eiche, ähnlich wie die Linde, häufig der Gerichtsbaum, unter dem juristische Entscheidungen getroffen wurden. Bis heute ist die Eiche ein typischer deutscher Wappenbaum. Auch auf der Rückseite von 1-, 2- sowie 5-Cent Stücken ist sie abgebildet.
In Deutschland sind Eichen vor allem durch Stieleichen und Traubeneichen vertreten. Diese beiden Arten gehören zu den Weißeichen. Das Holz der Weißeiche eignet sich gut für den Schiffbau oder für Möbel. Verwendung findet das Holz auch beim Bau von Treppen, Parkettfußbodenbelag, Außentüren, Fenstern und Fachwerk sowie dem Gebälk von Kirchen. Da das Holz der Eiche bei Ausschluss von Sauerstoff eine gute Haltbarkeit unter Wasser besitzt, wurden die Brücken- und Gebäudepfähle unter der Speicherstadt in Hamburg und der schwimmenden Stadt Venedig ebenfalls häufig aus Eichenholz hergestellt. Essbar sind die Früchte der Eiche übrigens nur nach aufwändiger Zubereitung. Während des Ersten und Zweiten Weltkrieges waren Eicheln eine beliebte Alternative um Kaffee herzustellen. Als Futtermittel besonders für Schweine werden Eicheln dagegen schon lange eingesetzt. Auch als natürliches Heilmittel ist die Eiche in vielerlei Hinsicht interessant.
Nun aber drohen wir diese mystischen Wesen Stück für Stück zu verlieren. Dagegen hilft der bisher regenreiche Herbst nur wenig. Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Der Grundwasserspiegel sinkt seit Jahren. Ein wenig Hoffnung machen die vielen Arten, vor allem die im westlichen Mittelmeerraum verbreitete Korkeiche und mediterrane kalifornische Eichenarten, welche durch ihre dicke und besonders regenerierungsfähige Rinde an Brände angepasst sind. Ihre Früchte keimen auch auf abgebranntem Boden. Trotzdem ist es von unschätzbarem Wert, die Bäume endlich als das anzuerkennen, was sie sind: Lebewesen, die uns beschützen, sanfte Riesen mit einem unfassbaren kollektiven Gedächtnis, das es zu bewahren gilt – als letzten Zeugen.