
„Der lange Weg des Lukas B.“ – Vom Aufbrechen und Ausbrechen
„Über den Wasserspiegel segelten Schwärme von fliegenden Fischen. Zehn, fünfzehn Meter weit schnellten sie sich durch die Luft, ehe sie wieder in das Meer eintauchten. ‚Was treibt sie, ihr Element zu verlassen?‘, sprach der Lehrer wie zu sich selbst. ‚Niemand weiß es. Aber wer wird ihnen deshalb die Segelflossen abschneiden, weil sie in der Luft nichts zu suchen haben?‘“ (S. 170)
Als ich an einem kalten, verregneten Ferientag irgendein beliebiges Buch aus dem Regal im Ferienhaus zog, hatte ich keine besonders großen Erwartungen, erst Recht nicht, dass ich mit diesem Buch einen kleinen Schatz gehoben hatte.
Die ungekürzte Lizenzausgabe erschien erstmals 1980 im Arena Verlag. Auf überschaubaren 381 Seiten beschreibt Willi Fährmann die Geschichte des etwa vierzehnjährigen Jungen Lukas Bienmann, der um 1870 mit seinem Großvater, einem Zimmermannsmeister, aus Ostpreußen nach Amerika aufbricht. Dort, so erhoffen sie sich, werde man schon das Geld zusammenbekommen, das nötig ist, um die Schulden zu decken, die Lukas‘ Vater nach seinem Verschwinden hinterlassen hat.
Willi Fährmann weiß Fachsprache behutsam in ein Netz aus plastischen Beschreibungen und authentischen Dialogen einzuweben, ohne dass man ein großes Vorwissen bräuchte. Vielmehr ergeben sich viele kleine Fakten zum Leben um 1870 in Ostpreußen, zur Auswandererbewegung von Deutschland nach Amerika, zur Schifffahrt und zum Christsein ganz nebenbei aus dem Zusammenhang.
Gelegentliche Cliffhanger am Ende eines Kapitels halten die Spannung aufrecht. Die Suche nach Lukas‘ Vater zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte. Ein überwiegend neutraler Er-/Sie-Erzähler gibt einen ungefilterten Einblick in die Lebensrealität der Familie Bienmann. Eine erfrischende Abwechslung sind die vielen und ausführlichen Dialoge zwischen den Figuren. Allerdings scheint Willi Fährmann sich stellenweise davor zu scheuen, seine Figuren in ernsthafte Schwierigkeiten geraten zu lassen und hält die Spannung bis zur Auflösung einer herausfordernden Situation nicht lange genug aus.
Trotz des gewaltigen historischen Rücksprungs wirken sämtliche Figuren nahbar. Selbst die Nebenfiguren sind vielschichtig ausgearbeitet. Haltungen und Handlungen der Figuren wirken nachvollziehbar motiviert. Insbesondere die Figur des Lehrers vertritt moderne moralische und politische Ansichten, wirkt jedoch auch stellenweise altklug und belehrend. Verkörpert durch Mathilde werden sogar feministische Ansätze deutlich. Insgesamt spielen Frauen im Roman allerdings bedauerlicherweise eine untergeordnete Rolle. Die Beziehung zwischen Lukas und seinem Großvater macht das Buch jedoch einmalig. Der Leser durchlebt im Laufe der Geschichte sowohl durch die Augen des Jungen als auch durch die Augen des alten Mannes, wie sich ihre Beziehung wandelt.
„Der lange Weg des Lukas B.“ ist Teil der Bienmann-Saga, mit der Willi Fährmann bekannt geworden ist. In jedem der vier Bände steht ein anderes Mitglied der Familie Bienmann aus einer anderen Generation als Protagonist im Vordergrund. Die Tetralogie beginnt mit „Der lange Weg des Lukas B.“, beschäftigt sich dann in „Zeit zu hassen, Zeit zu lieben“ mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, gefolgt von einer Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg in „Das Jahr der Wölfe“ und endet mit „Kristina, vergiß nicht“, einem Roman über die Spätaussiedler um 1971 aus Polen. Die Romane erschienen allerdings nicht in inhaltlich chronologischer Reihenfolge. Sie können unabhängig voneinander gelesen werden. Ein Stammbaum auf der ersten und letzten Doppelseite bietet dem Leser eine hilfreiche Übersicht über die Generationen der Familie Bienmann. Leider enthält eben dieser Stammbaum aber auch einige ärgerliche Spoiler.
Das Buch wurde nicht ohne Grund mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Jugendbuchpreis und dem Katholischen Jugendbuchpreis. Letzeren Preis verdankt das Buch auch seinen zahlreichen Bezügen zu christlichem Glauben und Lebenspraxis, die respektvoll und authentisch in die Erzählung integriert wurden.
Das Buch behandelt trotz seines Alters Themen, die auch heute noch aktuell sind. So geht es z. B. am Rande immer wieder auch um demokratische Werte und das Erkämpfen des Wahlrechts. In Lukas‘ Mikrokosmos begleitet man einen Jungen auf dem Weg dabei ein Mann zu werden, der einerseits in bereits gemachte Fußstapfen tritt, aber andererseits auch seinen eigenen Weg findet. Es geht um die Wahl des eigenen Berufs und die Vereinbarkeit von persönlicher Leidenschaft und dem nüchternen Geldverdienen.
Zum Roman existiert eine gleichnamige Serie, die 1992 im ZDF ausgestrahlt wurde. Allerdings hält sich die Verfilmung nicht ganz an die Handlung des Romans und verändert v. a. den Grund für den Aufbruch nach Amerika.
Empfohlen wird das Buch ab zwölf Jahren. Ich würde diese Empfehlung eher als Mindestalter verstehen und denke, dass auch dem Jugendalter entwachsene Leser noch Freude an Lukas‘ Reise haben werden. Besonders wer sich für die Auswandererbewegung interessiert, sollte dieses Buch unbedingt gelesen haben. Aber auch generell (Segel-) Schiffbegeisterte werden auf ihre Kosten kommen. Ich halte das Buch insgesamt für einen zeitlosen Geheimtipp, der selbst Klassiker wie Otfried Preußlers „Krabat“ oder Uwe Timms „Der Schatz auf Pagensand“ nicht in den Schatten stellt. Wer auf der Suche nach mehr Großvater-Sohn-Geschichten ist, dem kann ich außerdem auch „Mein Urgroßvater und ich“ von James Krüss sehr ans Herz legen.
Ich möchte aber nicht nur „Der lange Weg des Lukas B.“ empfehlen, sondern vielmehr auch im Allgemeinen: auf der nächsten Reise einmal kein Buch aus dem eigenen Bestand mitzuschleppen, sondern vor Ort die Schätze zu erkunden, die so ein Ferienhaus manchmal zu bieten hat.
