Philosophische Gedankenexperimente

library-425730__180Gedankenexperimente eignen sich bestens, um interessante Diskussionen anzuregen. In den seltensten Fällen gelangt man zu einer Lösung, aber das ist bei einem Gedankenspiel auch nicht das vorrangige Ziel. Es geht vielmehr darum, sich mit einem Szenario auseinanderzusetzen, das man im wirklichen Leben nicht hinterfragen würde. Annahmen werden ad absurdum geführt, verschiedene Gedanken werden provoziert und gegenteilige Positionen vertreten. Ein Gedankenexperiment ist, wie der Name bereits verrät, ein nur in Gedanken durchführbares Experiment, da der empirische Aspekt wegfällt und die Durchführung theoretisch nachzuvollziehen ist. Hierzu wird zunächst eine sogenannte Entscheid-Situation konstruiert: Die zu überprüfende Thematik (meist ein impraktikables oder gar unmögliches Szenario) weist bestimmte, festgelegte Variablen/Merkmale auf und stellt anschließend Fragen wie „Was wäre, wenn…?“ oder „Ist es (moralisch) richtig, anzunehmen, dass…?“. Es wird danach gefragt, welche Folgen sich aus dem konzipierten Fall ergeben, sobald man die vorgestellte Theorie auf die fiktive Situation anwendet.

Ein Beispiel:

1951 beschrieb der deutsche Rechtsphilosoph Hans Welzel den sogenannten Weichenstellerfall: Nachdem ein Güterzug sich von der Strecke löst, rast er geradewegs auf einen Bahnhof zu, wo sich ein Personenzug aufhält. Der zuständige Bahnwärter hat zwei Optionen und muss sich nun schnell entscheiden: Er hat einerseits die Möglichkeit, den Güterzug auf ein Nebengleis zu lenken, um die Menschen am Bahnhof zu retten. Dort befinden sich allerdings fünf Arbeiter, die er nicht rechtzeitig warnen kann und die folglich sterben würden. Lenkt er andererseits den Güterzug nicht um, werden hunderte Passagiere am Bahnhof sterben. Wie soll der Bahnwärter handeln?

Tatsächlich entscheiden sich die meisten Menschen intuitiv für die erste Möglichkeit mit der Begründung die Anzahl der Toten auf diese Weise mit ziemlicher Sicherheit verringern zu können. Doch beim zweiten Hinsehen fragt man sich, ob der Bahnwärter Gott spielen und entscheiden darf, wer weiterhin leben sollte und wer nicht? Dürfen wir Leben retten, wenn wir dazu andere umbringen müssen?

Diese Frage führte die amerikanische Rechtsphilosophin Judith Thomson im Jahre 1976 weiter aus und fügte dem Gedankenexperiment folgendes Merkmal hinzu: Der Zug rollt weiterhin auf die Passagiere am Bahnhof zu, doch dieses Mal stehen wir als Beobachter des Geschehens auf einer Brücke. Neben uns sitzt ein schwergewichtiger Mann. Wenn er von der Brücke fiele, würde er auf dem Gleis landen, vom Zug überrollt werden, aber den Wagon mithilfe seines Gewichtes von der Weiterfahrt abhalten. Da er aber nicht freiwillig springen wird, müsste man ihn erst töten, damit er fällt und die hundert Passagiere am Bahnhof gerettet wären. Wo viele doch bereit waren fünf Menschen sterben zu lassen, müsste jetzt nur ein Mensch geopfert werden. Doch überraschenderweise wird diese Variante von den meisten Menschen abgelehnt!

Was hat sich denn geändert? Der Unterschied besteht darin, dass wir jetzt einen Menschen selbst töten müssten, eigenhändig! Wir müssen uns also die Hände dreckig machen… Dieser Punkt lässt viele abschrecken, obwohl sich die Situation eigentlich nicht verändert hat und die Anzahl der Toten auf einen einzigen gesunken wäre. Wie kann man in dieser Situation die richtige Entscheidung treffen? Plötzlich scheint die Antwort nicht mehr ganz so einfach…

Mit insgesamt hundert solcher Gedankenspiele hat sich auch der Philosoph Julian Baggini in seinem Buch „100 PHILOSOPHIESCHE GEDANKENSPIELE “ beschäftigt. Die Gedankenexperimente sind übersichtlich strukturiert und stellen den Leser vor sämtliche Dilemmata. Der Autor fragt beispielsweise, ob ein überzeugter Vegetarier das Fleisch eines Schweins essen darf, wenn sich das Schwein dies ausdrücklich wünscht? An anderer Stelle fragt Baggini, wie ein Soldat handeln soll, nachdem man ihm befohlen hat, eine unschuldige Gefangene zu vergewaltigen und zu töten, wobei er auch weiß, dass, im Falle einer Widersetzung, auch er mit dem Leben zahlen und die Gefangene trotzdem den gleichen und einen noch viel qualvolleren Tod erleiden müsste? Gibt es Situationen, in denen richtiges Handeln unmöglich ist? Kann eine Handlung falsch sein, der Handelnde trotzdem ohne Schuld? Diesen und vielen weiteren tückischen Fragen geht der Autor tiefsinnig doch in klar verständlicher Sprache auf den Grund. Eine, wie ich finde, sehr empfehlenswerte Lektüre, die an einigen Stellen zum Schmunzeln bringt, da einem schier unlösbare Rätsel erscheinen und an anderen Stellen auch viele Denkanstöße gibt, Dinge in neuem Licht zu betrachten.

Viel Freude beim Philosophieren!

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Julian Baggini

100 PHILOSOPHIESCHE GEDANKENSPIELE

PIPER Verlag

ISBN 978-3-492-2527-4