Die besten Bücher 2016 – zumindest sechs davon

Man kann und muss sich nicht entscheiden, welches die besten Bücher 2016 sind – darunter sind großartige ‚letzte’ Werke, posthum veröffentlicht, wie Roger Willemsens „Wer wir waren“ oder Harry Rowohlts Briefe „Und tschüs“, fantastische Romane, Krimis und spannende Sachbücher, aber zu den sechs besten Büchern in diesem Jahr zählen für mich eindeutig die folgenden:


Wenn das eigene Leben auserzählt ist – Heinz Strunk, „Der goldene Handschuh“.

Für den diesjährigen Leipziger Buchpreis nominiert, erzählt Heinz Strunk in seinem ersten nicht autobiographischen Roman „Der goldene Handschuh“ von Frauenmörder Fritz ‚Fiete’ Honka, der in den 70er-Jahren die Schlagzeilen der deutschen Presselandschaft beherrschte und regelmäßig in die Hamburger Kiezkneipe „Zum goldenen Handschuh“ eingekehrt war. Vier Frauen, darunter Prostituierte, hat er brutal missbraucht, ermordet und in Einzelstücken entsorgt bzw. in seiner Altonaer Mansardenwohnung aufbewahrt.
Heinz Strunk erzählt aus der Innensicht Honkas – und nicht nur aus dessen. Es fällt beim Lesen schwer, zu entscheiden, welcher der Charaktere einen am meisten anwidert – und doch fühlt man gleichzeitig mit ihnen, weil der Autor Einblick in die Gefühlswelten aller gibt. Die auktoriale Erzählerperspektive macht die Geschichte nicht nur zu der von Fritz Honka, sondern zu der aller Heruntergekommenen, schier keinen Ausweg aus ihrem Elend Findenden – egal ob arm oder reich. Strunk war es wichtig, nicht nur die Perspektive der weniger gut Betuchten zu zeigen, daher hat er parallel zur Geschichte um den „Goldenen Handschuh“ und St. Pauli die der Reedererfamilie von Dohren konstruiert. WH (Wilhelm Heinrich) 1 bis 3 bilden die Generation ‚reich aber trotzdem unglücklich’ ab und erschrecken mit ihrer Geschichte nicht weniger.
Trotz Brutalität und Grauen hat Strunk nach sechs Jahren Recherchearbeit in den für 40 Jahre verschlossen gewesenen Prozessordnern ein lesbares Buch gezaubert. Ihm war es wichtig, dass die Fakten stimmen. Das merkt man als Leser deutlich, schränkt den Lesefluss aber keinesfalls ein. Die Gefahr, in der Geschichte um den brutalen Serienmörder aus Empathie Sympathie werden zu lassen, wendet Strunk durch die real geschilderten Quälereien und Morde, durch die vielen unfassbaren Details der Missbrauchstaten geschickt ab. Auch wenn es bei diesem Thema schier unmöglich scheint, aber auch die Strunksche Ebene des Humors kommt in seinem neuen Roman nicht zu kurz – und wahrscheinlich braucht es genau die, damit das Buch lesbar wird. Gleichzeitig ist „Der goldene Handschuh“ ein großartiger Hamburgroman, der das Rotlichtviertel St. Pauli der 70er-Jahre erschreckend realistisch abbildet.

‚Zum Glück ist das alles weit weg …’ – Sibylle Berg, „Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten“.

Sibylle Berg ist wunderbar – ihre Romane, Theaterstücke und Geschichten sind einfach grandios – sie ist eine der bedeutendsten deutschsprachigen Autorinnen der Gegenwart, so viel steht fest. Und sie provoziert, nimmt nie ein Blatt vor den Mund und das bereits seit ihrem Debüt „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“, welches vor knapp 20 Jahren erschienen ist. Ihre abstruse Fantasie und der schamlose Blick in die tiefsten Abgründe der Menschen haben ihre Werke immer schon besonders gemacht.
Nun wird Sibylle Berg sozialkritisch, geht raus aus der Fiktion und rein in die schreckliche Gegenwart – eine Realität, die abstrus genug zu sein scheint. In „Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten“ besucht Berg in neunzehn Kapiteln Orte, die von Touristen häufig besucht werden, nur tut sie das wesentlich kritischer. Mit der gewohnten Partie Sarkasmus und Unverfrorenheit schildert sie Situationen, die dem Leser die Tränen abwechselnd vor Lachen und Weinen in die Augen treiben. Die Kreuzfahrt wird zum Horrortrip, die Goldgräbertour zum Überlebenskampf – von Urlaub hat das nicht mehr viel. Schreckliche Nachrichten wie Terrormeldungen oder Bombenanschläge erscheinen in P.S. und P.S.2 – wie in einem Brief an den Leser – und sind hochaktuell.
Angenehm rotzig, frech und kritisch beschreibt Sibylle Berg das Erlebte – man fühlt sich als Teil der kalten und ungemütlichen Luxus-Zugfahrt nach Thailand und sieht sich selbst auf den vom schönen Schein behangenen Filmfestspielen in Cannes. Egal ob in Bayreuth, Italien oder am Amazonas – sie kreiert ein herrlich bizarres Bild in jeder Reise- und Gesprächssituation, trifft die Problematiken auf den Punkt, auch wenn es nicht ganz klar wird, ob die Erzählerin als Journalistin, Touristin oder stille Beobachterin unterwegs ist. Schockmeldungen vs. schöne Welt, scheint das Motto dieses Buchs zu sein. Berg ergreift das Wort, als könne sie das alles nicht mehr mit anschauen. Das beste Buch von Sibylle Berg – hochaktuell und erzählerisch mitreißend. Man kann durchaus auch auf das Hörbuch, gelesen von Katja Riemann, zurückgreifen – die rauchige Stimme verleiht dem ganzen einen weiteren angenehm sarkastischen Schliff.

Über Generationen und Generationen – Ronja von Rönne, „Wir kommen“.

Die Erwartungen an Ronja von Rönnes ersten Roman waren hoch. Die junge Autorin ist mutig, vielleicht ist sie sogar das, worauf man seit den 2010er Jahren eigentlich schon gar nicht mehr wartet – vielleicht ist sie das neue literarische Fräuleinwunder. Bekannt geworden ist die junge „Die Welt“-Autorin im letzten Jahr durch ihren drastisch formulierten Artikel „Warum mich der Feminismus anekelt“ – die Meinungen darüber gingen weit auseinander und so tun sie es auch über ihren ersten Roman. Vorsichtshalber rezensiert sie ihn zwei Monate vor Erscheinen einfach schon einmal selbst auf ihrem Blog „Sudelheft“. Sie kommentiert dort aus der Sicht „eines Feuilletonisten“, aus Sicht ihrer Mutter und Großmutter, beurteilt mit dem Blick eines „Amazonkundens“ oder auch mit dem von Johann Wolfgang von Goethe höchstpersönlich – dem klassischen und dem romantischen Goethe versteht sich. Allein damit beweist sie Wissen und doch auch Gewagtheit, sie zeigt wieder einmal Mut und ebenso die Erkenntnis zur Selbstkritik. Trotz oder gerade wegen der hohen Erwartungen – Ronja von Rönne überzeugt. Auch in ihrem ersten Buch. „Wir kommen“ ist ein Roman – er spricht nicht altklug über eine Generation, er erzählt eine Geschichte aus der Sicht junger Menschen, die sich vielleicht ab und zu, um die Flucht vor dem ein oder anderen Alltagsproblem leichter zu machen, als Mitglieder einer Generation irgendetwas bezeichnen.
Die Parallelhandlung, die immer wieder den schmalen Grat zwischen Kindheit und Erwachsensein aufzeigt, lassen den Leser diese Geschichte auf jeden Fall bis zum Ende verschlingen. Natürlich fragt man sich, warum die Protagonistin nun ausgerechnet wieder einen Therapeuten benötigt, warum man in Nora doch immer wieder Ronja sieht und warum selbst die Flüchtlingsthematik nicht außer Acht gelassen werden kann – nichtsdestotrotz erinnert das Debüt mit seiner abstrusen Handlung und der insgesamt ziemlich bedrückenden Stimmung an Größen wie Sibylle Berg und: überzeugt. Bitte unbedingt mehr davon!

Oh mein Brandenburg – Juli Zeh, „Unterleuten“.

Als gebürtige Brandenburgerin war ich besonders neugierig auf und kritisch gegenüber „Unterleuten“ – so heißt der neue Roman der vielfach ausgezeichneten in Bonn geborenen Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh – seit 2007 lebt sie selbst in einem Brandenburger Dorf. „Unterleuten“ ist genau das, ein kleines fiktives Dorf in Brandenburg, wahrscheinlich irgendwo nördlich von Berlin, mit 250 Einwohnern und recht wenig Kontakt zur Außenwelt. Eine eingeschworene Dorfgemeinschaft eben. Und nun soll ausgerechnet dort ein Windpark errichtet werden – das löst natürlich gerade bei Umweltschützern nicht nur freudige Reaktionen aus, die armen Vögel, die dabei sterben, die plötzlichen Besitzansprüche, die auf einmal an Wiesen und Weiden gestellt werden, auf denen eigentlich Pferde in aller Ruhe grasen sollten – die Stimmung ist jedenfalls alles andere als harmonisch, als die Investmentfirma ihren Plan vorstellt und die unterschiedlichen Streitigkeiten unter den teilweise recht schrulligen Dorfbewohnern nehmen ihren Lauf. Der Beginn des Romans vermittelt gar einen apokalyptischen Eindruck, draußen brennt und qualmt es und die junge Familie Fließ muss Fenster und Türen verriegelt lassen – letztendlich handelt es sich um einen gewaltigen Nachbarschaftsstreit, auch so etwas kommt in den besten Dorfgemeinschaften vor.
„Unterleuten“ ist ein Gesellschaftsroman, also etwas, was heute kaum noch in solch beeindruckendem Umfang und mit so einer stringenten Erzählstruktur geschrieben wird. Allein der Wikipedia-Eintrag „Unterleuten“ hat nahezu Ausmaße des der „Buddenbrooks“ von Thomas Mann, der Roman hat eine eigene Webseite, auf der man durch das fiktive Dorf wandern und den ein oder anderen Bewohner ‚antreffen’ kann. Ausführliche Figurenbeschreibungen und –konstellationen scheinen wohl vonnöten, um diesen Roman zu verstehen – dabei braucht man ihn einfach nur zu lesen. „Unterleuten“ ist zwar komplex und die einzelnen Handlungsstränge sind geschickt miteinander verwoben, aber kompliziert zu lesen ist das Ganze dennoch nicht und die gut 630 Seiten fließen nur so dahin. Berliner Aussteiger treffen auf alteingesessene Dörfler, reiche Ingolstädter mit alten Besitzansprüchen auf junge übermotivierte Unternehmerinnen – „Wendegewinner“ vs. „Wendeverlierer“ heißt es im Klappentext und auch wenn sie mittlerweile seit bald 30 Jahren hinter uns liegt, scheint die ehemalige Trennung in DDR und BRD samt Wende immer noch Auswirkungen zu haben. Die Kritiker waren begeistert von diesem großartigen und fesselnden Roman – und ich bin es auch.

Very British! – Isabel Bogdan, „Der Pfau“.

Isabel Bogdan ist eigentlich Übersetzerin englischer Literatur, preisgekrönt, und als ob es ihr gereicht hätte, immer ‚nur’ die Übersetzerin zu sein, hat sie in diesem Jahr ihren ersten eigenen Roman veröffentlicht – „Der Pfau“ sieht nicht nur wunderschön aus, sondern bietet auch wundervolle Unterhaltung.
In einem „charmant heruntergekommenen Landsitz“ von Lord und Lady McIntosh in den schottischen Highlands versammeln sich skurrile Gäste unter ungewohnten Bedingungen. Dazu gehört auch eine Gruppe Banker, die ein Wochenende als sogenanntes und heutzutage weit verbreitetes „Teambuilding-Event“, also als eine die Kollegenbeziehungen stärkende Unternehmung, auf diesem abgelegenen Landsitz verbringt. Alles ist bis ins kleinste Detail geplant und alles kommt ganz anders – schuld daran ist u. a. namengebender Pfau, der alle Beteiligten samt Haushälterin und Köchin durcheinander bringt.
Sowohl als Hörbuch, gelesen von dem großartigen Christoph Maria Herbst, als auch als gebundene Ausgabe mit einem der schönsten Cover in diesem Jahr ist „Der Pfau“ eine absolute Bereicherung. Beim Lesen und Hören friert man mit den Gästen, als die Heizung ausfällt, schmeckt man mit ihnen die wunderbaren Köstlichkeiten, welche die Köchin in einer Tour fleißig zubereitet und leidet man mit, als die selbstbewusste Chefin die schlimmste Grippe ihres Lebens erträgt. Man spürt, dass Isabel Bogdan oft selbst in ein abgelegenes Anwesen am Fuße der schottischen Highlands reist, wo ihr anscheinend die ein oder andere Anekdote in den Sinn kam. Diese hat sie nun wunderbar erzählerisch ausgestaltet und einem der unterhaltsamsten Romane des Jahres niedergeschrieben.

Wie bedrückend kann Prominenz wirklich sein? – Matthias Brandt „Raumpatrouille“.

Matthias Brandt ist einer der besten und markantesten deutschen Schauspieler – und nebenbei der Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers der BRD, Willy Brandt. Schauspieler schreiben oft auch Bücher, Schauspieler haben oft prominente Eltern – wenn das beides zusammen kommt, kann etwas Wertvolles wie „Raumpatrouille“ dabei herauskommen.
Die Betonung legt Matthias Brandt darauf, dass alles in diesem Band von Geschichten, „erfunden ist“ – „Einiges davon habe ich erlebt. Manches von dem, was ich erlebt habe, hat stattgefunden“, so schreibt er vorneweg.
Alles in allem wird hier auf groß bedruckten 170 Seiten eine sehr traurige Kindheit beschrieben. Schnell, aber gebannt durchgelesen bietet „Raumpatrouille“, Matthias Brandts erstes Buch, eine gute Option für die leichte Lektüre zwischendurch.
Rührend ist sie, man sieht den kleinen verzweifelten Jungen vor sich, der seinen Ausweg in Träumen sucht – dem Astronaut zu werden, zum Beispiel. Die gähnende Langeweile dieser unausgefüllte, aber ständig unter Beobachtung der Sicherheitsleute stehenden Kindheit versucht er u. a. im Briefmarkensammeln oder in Besuchen beim Bundespräsidenten zu ertränken – bei letzterer Option sogar im wahrsten Sinne des Wortes, da er bei diesen Besuchen zwar wirklich jedes Mal die leckerste heiße Schokolade bekommt, aber sonst absolut gar nichts dort passiert. Sein einzig wahrer Freund ist Gabor, sein Mischlingshund. Zum Fußball Spielen hat er bei all seinen Bemühungen und trotz der absolut sicheren Torwartsausstattung einfach kein Talent. Am traurigsten aber ist die Szene auf dem Jahrmarkt, auf dem neben der ständigen Begleitung der Sicherheitskräfte und natürlich der Journalisten alles in unglaublich schnellem Tempo und mit einer widerlich großkotzigen Art von statten gehen muss – so bekommt er auf den Wunsch, Lose ziehen zu wollen, den ganzen Lostopf gekauft und muss, bis er wunde Finger hat, jedes einzelne Los aufpulen, um den ‚Hauptgewinn’, einen stinkenden großen Bären zu bekommen – ein Foto für die Presse mit diesem scheint selbstverständlich.
Das Buch endet mit der rührenden Szene, wie der Vater dem Sohn vorliest, scheinbar nichts Ungewöhnliches, doch aber wohl im Hause Brandt, wo der Vater, eben Bundeskanzler, eigentlich nur mit Zigarette und Whiskyglas bewaffnet im Büro verschwindet und Wichtiges zu tun hat – Wichtigeres zum Beispiel, als mit seinem Sohn Fahrrad zu fahren oder Fernsehen zu schauen.