Puhstemuhme
Krause, krause Muhme,
alte Butterblume,
Puhsterchen, nanu?
wo hast du denn dein Hütchen,
dein gelbes Federschütchen,
worauf wartest du?
Warte aufs Kindchen,
auf ein lieb Mündchen,
ich alte griese
Trauerliese,
puh, puh, puh.
Ach bitte, puhst mich doch
rasch in den Himmel hoch;
tausend kleine Nackedeis
spielen da im Gras,
tausend kleine Nackedeis
lachen sich da was!
Richard Dehmel (1863-1920)
Das Gedicht mit dem Titel „Puhstemuhme“ von Richard Dehmel beschreibt eine Sommerszenerie. Es ist in zwei Strophen aufgeteilt, die keine klassische Verszahl aufweisen und im zwei- bis vierhebigen Trochäus verfasst sind. Auch das Reimschema fügt sich keinem symmetrischen Muster, sondern beginnt in der ersten Strophe mit einem Schweifreim, den in der zweiten Strophe ein dreiteiliger Paarreim ablöst, welcher wiederum durch einen Einschub unterbrochen wird und dann mit einem Kreuzreim endet.
Die erste Strophe beginnt mit einer Anapher. Die „[k]rause, krause Muhme“ (V. 1), von der das Gedicht handelt, ist eine ältere deutsche Bezeichnung für „Tante“. Aus dem folgenden Vers wird ersichtlich, dass die Gedichtssituation auf einer Blumenwiese zu verorten ist. Denn dort wird eine „alte Butterblume“ (V. 2) direkt angesprochen und dann eine Frage angeschlossen: „Puhsterchen, nanu?“ (V. 3). Es scheint, als würde ein Kind die Unterhaltung führen, das daraufhin weiter fragt, wo das „Hütchen“ (V. 4) sei und worauf die Blume warte (vgl. V. 6). Dies ist eine Metapher für den fruchtreifen Löwenzahn, dessen Blüte zuvor gelb war.
In der folgenden Strophe antwortet die dem Gedicht seinen Titel gebende „Puhstemuhme“. Sie „[w]arte aufs Kindchen, auf ein lieb Mündchen“ (V. 7, 8). Dass die Pflanze selber zu sprechen scheint, wird aus dem Personalpronomen ersichtlich, so fährt sie fort: „Ach bitte, puhst mich doch“ (V. 12). Die Anapher „puh, puh, puh“ (V. 11) unterstreicht diese Aufforderung und bezieht den Leser durch die Formung des Mundes beim Lesen in diese Bitte ein. Der hier angedeutete Vorgang des Pustens der Schirmflieger ist nicht nur ein allseits bekanntes Kinderspiel, sondern auch notwendig zur Fortpflanzung des Löwenzahns, der sich so erst „rasch in den Himmel hoch“ (V. 13) und dann über eine Wiese hinweg verbreiten kann. Auf wen sich die „kleine[n] Nackedeis“ (V. 14, 16) in den folgenden Versen beziehen, wird nicht direkt ersichtlich. Denn einerseits wird „Nackedei“ häufig als Kosename für Kinder verwendet, andererseits deutet die Zahl „tausend“ (V. 14, 16) darauf hin, dass es sich vielmehr um die Schirmflieger selber handeln muss, die sich im Gras verteilen. Sowohl durch die Personalpronomen als auch durch die gewählten Verben des Spielens und Lachens (vgl. V. 15, 17) liegt hier das stilistische Mittel einer Personifizierung vor. Zugleich erscheint es möglich, dass sich ein Kind selber mit sich in einem Monolog befindet und den Prozess des „Puhstemuhme“ „[P]uhsten[s]“ nacherzählt.
Richard Dehmel veröffentlichte das Gedicht „Puhstemuhme“ 1908 im sechsten Band seiner „Gesammelten Werke“. Der 1863 in Hermsdorf geborene Dichter und Schriftsteller galt als einer der bedeutendsten Lyriker der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Der in erster Linie für sinnliche und erotische Lyrik bekannte Dichter verfasste seit Ende des 19. Jahrhunderts auch Kinderbücher und -lyrik. Er gilt als Wegbereiter expressionistischer Lyrik. Nachdem er sich 1914 freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, starb Dehmel 1920 an den Folgen einer im Krieg zugezogenen Venenentzündung.
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