Reiseandenken
Ich fahre in eine Großstadt. Nicht zum Besichtigen, zum Arbeiten. Heute fahre ich hin, morgen abend schon wieder zurück, abends erst, aber bis dahin werde ich zu genüge beschäftigt sein. Ich checke in einem Hotel ein, nur zum Schlafen. Wellnessprogramm und Fitness, wer hat denn Zeit für so etwas.
Nach dem Einchecken habe ich knappe zwei Stunden Zeit. Ins Zentrum fahren würde zu lange dauern, gemessen an der Zeit die mir dann dort verbliebe, also beschließe ich, einfach ein wenig frische Luft zu schnappen und das Viertel zu erkunden, in dem das Hotel steht. Als erstes fällt mir auf, dass ich auf dem Hinweg von der S-Bahn-Station zum Hotel einen Umweg gelaufen bin. Die Abkürzung durch die Arkaden aus alten Bögen aus verschnörkeltem Metall zwischen der S-Bahn-Brücke und den alten Häusern, die im Abstand von etwa vier Metern danebenstehen, lasse ich erst einmal links liegen. An der Station war ich ja schon. Wie halten Menschen das aus, direkt an Bahngleisen zu wohnen? Und wie furchtbar muss das sein, wenn man jahrelang in Frieden dort gewohnt und so ein hübsches Haus aufgebaut hat und dann irgendjemand beschließt, genau nebenan Bahnschienen zu verlegen?
Zeit treiben lassen ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen und so schlendere ich in sehr gemächlichem Tempo vor mich hin. Irgendeinem mathematischen Prinzip folgend, von dem ich einmal gelesen habe – wohlgemerkt in einem Roman, nicht in einem meiner Bücher zu höherer Mathematik – erschließe ich die Gegend auf einem spiralförmigen Pfad, der sich als Schlucht zwischen Häuser und Passanten malt. Mir treibt der Geruch dieser Stadt, in der ich schon einmal war, die mir doch fremd ist, ein Gefühl von Armut in die Nase. Es scheint sich zu bestätigen, als um die Ecke ein Lied weht, gespielt von einem Straßenmusiker. Er spielt recht gut, trotzdem bin ich verblüfft über die zahlreichen schweren Münzen und die leichten Scheine, die in seinem Instrumentenkoffer im Wind zittern. Scheint doch keine ärmliche Gegend zu sein.
Weitergegangen. Es dämmert schon fast, also wird das Licht trüb, zumal es leicht zu nieseln begonnen hat. Wieder um die Ecke. Das Hervorragende an so einem Spiralgang ist es, ständig um Ecken zu laufen und hinter jeder eine neue Überraschung erleben zu können, nur hoffentlich gute.
Mir entgegen scheint diesmal sehr gelbliches Licht. Ich merke, dass ich irgendwie in der Gasse gelandet bin, an der ich vorhin vorbeigelaufen bin. Parallel zur S-Bahn.
Vor mir ist ein Meer, zumindest Wellen breiten sich aus, von mir bis zur S-Bahn-Station. Bögen aus Metall, die die Gasse überspannen, Bögen, gemauert, erschließen den Raum unterhalb der S-Bahn-Brücke. Das warme gelbe Licht leuchtet aus ihnen heraus.
Ich trete durch eine Glastür in einen dieser Räume ein. Bücher umgeben mich. Eine Buchhandlung unmittelbar unter einer S-Bahn-Station. Getaucht in malerisches Dimmerlicht. Die Bücher sind auf allerlei unterschiedlichen, teils kuriosen Regälchen aufgereiht, liegen in wilden Stapeln auf Tischen.
Als ich um einen Bücherstapel herumlaufe, merke ich, dass alle Bögen innerhalb durch noch niedrigere Mauerbögen miteinander verbunden sind.
Ich will einen der anderen Räume sehen, muss aber kurz warten, denn mir entgegen kommt ein etwa einsachzig großer Mann, der leicht seinen Kopf schräg legt, als er, mit einem Stapel Zettel in der Hand, den kleinen Durchgang durchschreitet.
Ich betrete den anderen Raum. Ebenso vielfältig bestückt trägt er die Überschrift: Kunst. Und wirklich. Die Bücher hier bestehen fast ausschließlich aus Fotografien von Bildern, Skulpturen, aus Collagen und Fotokunst. In der Mitte des Raumes ein riesiges Buch. Jede Seite hat gewiss DIN-A1-Format. Ich schlüpfe in das weiße Paar ausgelegter Baumwollhandschuhe und blättere die erste Seite um. Das Schild über mir droht mir ein wenig. 4000 Euro. Dabei haben mich bereits die Preise der kleinsten Bücher hier zusammenzucken lassen. „Was nix kost, is auch nix!“, dröhnt meine Oma mit ihrer rauchigen Stimme durch meine Gedanken.
Aber was macht das schon. Wer will einen Reisenden, auch wenn er offensichtlich kein Geld in der Hosentasche mit sich führt, davon abhalten, einfach den Zauber dieses Ladens zu atmen und welche Kunst lebte nicht davon, bewundert zu werden?
Ich bringe kein Andenken mit nach Hause, kein Foto der Stadt, von der ich nichts gesehen habe, als einen Musiker und einen wunderlichen Buchladen. Ich weiß nicht einmal, wo genau ich dort war. Der Platz könnte ebenso gut gleich hier um die Ecke liegen. In meinem Kopf liegt er dort, zwei Hirnwindungen weiter links von meinem heimischen Lieblingsausguck im Wald, von dem aus man den Bach und die ganze Lichtung überblicken kann.
In zwei Stunden habe ich nichts gesehen von Berlin. Ich war einfach da und habe gemacht, was ich immer machen würde, wenn ich einen hübschen Buchladen sehe. Hineingehen und die Welten zwischen den Buchdeckeln spüren.
Eindrücke die mir bleiben, die in Bilder in meinem Kopf fließen und dort stehen als Ankerpunkte von Glückseligkeit.
Bildquelle: eigenes Foto