Kriege sind nicht totzukriegen
Andreas Gryphius (1616 -1664)
Tränen des Vaterlandes (1636)
Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun,
das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun
hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.
Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret.
Das Rathaus liegt im Staub, die Starken sind zerhaun.
Die Jungfern sind geschändt, und wo wir hin nur schaun,
ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret.
Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches Blut,
dreimal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flut
von Leichen fast verstopft sich langsam fortgedrungen.
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot,
dass auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.
Dieses Sonett ist ein regelrechter Aufschrei über die ungeheuren Zerstörungen, Verwüstungen und das grenzenlose menschliche Leid mitten im Dreißigjährigen Krieg. Dieser Krieg wurde als europäischer Machtkampf seit 1618 hauptsächlich auf deutschem Boden ausgetragen. Dass die Auseinandersetzungen vor allem auf verantwortungslosem, aber üblichem Großmachtgehabe, hier von Österreich-Ungarn, Spanien, Frankreich und Schweden beruhten, muss man nicht unbedingt wissen, will man das Gedicht von Gryphius verstehen, auch nicht von den noch unsinnigeren religiösen Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten und noch weniger von den damaligen Kriegshelden Wallenstein und Gustav Adolf. Es reicht als Hintergrund eigentlich schon, wenn wir uns Bilder aus täglichen Nachrichten im Fernsehen über kriegerische Konflikte in aller Welt vor Augen führen, die beweisen – es hat sich nichts geändert seit damaligen und ewigen Zeiten: Kriege gleichen sich in ihren Auswirkungen seit eh und je. Ihre Zerstörungen, Mord und Totschlag und der Verlust ethischer wie moralischer Werte sind konstante Begleiterscheinung in allen menschlichen Kulturen – Widerstand zwecklos.
Nein, nicht ganz. Nach dem Entsetzen über Zerstörungen dürfen Waffen oft ruhen und Friedensverhandlungen können beginnen. Wiederaufbau steht an und eine neue Generation von Starken und Jungfern darf mit neuen Idealen und Hoffnungen nach vorne schauen. Da im Kriege auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen wurde, wird eine politische und persönliche „Vergangenheitsbewältigung“ nötig, über deren Problematik wir in Deutschland ja gut mitreden können. Politisch will keiner für Krieg und Kriegsverbrechen verantwortlich gewesen sein und persönlich ist es fast unmöglich, Tätern vorzuwerfen oder von ihnen gar das Eingeständnis zu verlangen, im Kriege ihren Seelen-Schatz und ihre Würde verloren zu haben. Es sind immer die zahllosen, namenlosen Opfer, die daran psychisch, aber lebenslang zu leiden haben. Schuld und Schande hüllen sich dagegen gern in Schweigen – und die Zeit tut ihr Übriges. Sind nach Jahren die bösen Erinnerungen endlich verdrängt, die Schäden repariert und der Hunger vergessen, scheint alles wieder gut, möchte man meinen. Aber das weltweit beliebte Spiel „Krieg und Frieden“ ist damit keineswegs für immer in der Mottenkiste mit der vergilbten Aufschrift „Nationalgeschichte“ verschwunden. Es liegt dort in den meisten Fällen ganz oben auf, denn todsicher lassen sich bei nächster Gelegenheit wieder Scharen frecher Völker als Mitspieler und rasende Posaunen der Hetze finden, um das menschlich-allzu-menschliche Spiel der vergessenen Grausamkeiten neu aufzunehmen, also wieder mit Gewalt, Mord und Totschlag und dem Verlust des menschlichen Seelen-Schatzes so vieler.
Wir müssen uns folglich keine zu großen Sorgen machen, irgendwann keine Tränen des Vaterlandes mehr bedauern oder gar selbst vergießen zu müssen. Das Kriegsspiel ist gar zu toll! – Und außerdem: Man käme ohne Kriege ja ganz aus dem Rhythmus der Geschichte.