Wolfgang braucht neue Schuhe…
Es ist Samstag, ein sonniger Tag nach einer anstrengenden Uniwoche. Die Wohnung ist aufgeräumt, das Auto gewaschen, die Wäsche trocknet bereits im Keller. Nach 5 Tagen hält endlich das Wochenende Einzug. Ein Freund von mir, Wolfgang, schlägt vor, in die Stadt zu fahren. Er bräuchte neue Schuhe. Natürlich lehne ich sein Angebot nicht ab… vielleicht fällt mir selbst etwas ins Auge.
Wir kommen mit dem Zug in der Innenstadt an und versuchen uns durch die Menschenmassen durchzuschlängeln. Ein typischer Samstag. Unsere Vermutung bestätigt sich, sobald wie die Fußgängerzone betreten – eine Anreise mit dem Auto wäre vermutlich zu einer echten Qual geworden – bei so vielen Einkaufsfreudigen findet man keinen Parkplatz mehr.
Umgeben von Tausenden von Passanten und mindestens doppelt so vielen Einkaufstüten streifen wir an unterschiedlichsten Geschäften vorbei. Die Einkaufsstraße ist bunt, unzählige Plakate in den Schaufenstern zielen nur auf eins ab: so viele Kunden anzulocken wie möglich. Dabei gehen die Betreiber durchaus geschickt vor. Mit englischsprachigen Parolen werden Konsumenten eher angesprochen, als mit deutschen, öden Texten. So scheint es.
Im Getümmel kommt uns ein Grüppchen junger Mädchen entgegen. Es wäre nichts Außergewöhnliches, wenn sie denn nicht die halbe Straßenbreite einnehmen würden. Anders war das Problem aber nicht zu stemmen; sie sahen so aus, als wenn sie gerade eben ein Modegeschäft überfallen hätten. Wahnsinn. Man fragt sich, woher sie das Geld nehmen. Aber im Grunde ist es gar nicht nötig, viel Geld auszugeben und trotzdem volle Tüten zu haben. Wir leben im Kaufrausch, uns geht es gut. Schuhe, Hemden, Hosen – es ist für den Otto-Normal-Verdiener alles (im gesunden Maße) erschwinglich. Man fragt sich selten, warum es so günstig ist.
Oft verrät ein Blick auf das Etikett diesen Umstand. Made in China, Made in Taiwan, Made in Bangladesh. Letzteres geriet im vergangenen Jahr verstärkt in die Schlagzeilen, nachdem das Fabrikgebäude (mehrerer Marken) eingestürzt ist und Hunderte in den Tod zog. Man kann natürlich sagen, dass so ein Unglück überall geschehen kann. Oder dass es die Schuld der Betreiber ist.
Die Resonanz dieser Tragödie war groß. Zahlreiche Proteste fanden statt, man rief uns zum Boykott auf. „Kauft dort nicht mehr ein! Unterstützt diese Verbrecher nicht“ Viele gingen davon ab, bei dem bekannten Mode-Billigmarkt einzukaufen. Es stellt sich jedoch die Frage: Ist es bei den anderen Marken nicht ähnlich? Wo kann man die Gewissheit haben, dass die Kleidungsstücke nicht unter menschenunwürdigen Verhältnissen hergestellt werden? Die Antwort ist in ihrer Klarheit erschreckend: nahezu gar nicht. Es bringt nichts, sich von einer Marke abzuwenden, wenn die Zweite den gleichen Prinzipien folgt. Und die Dritte ebenso.
Genauso wie bei Lebensmittelprodukten, gibt es auch gerecht gehandelte Ware aus einer Produktion, die unter angemessenen Verhältnissen stattfindet. Beim Rundgang durch die Stadt stellen wir jedoch kein einziges Geschäft mit derartiger Auszeichnung fest. Eine nachträgliche Recherche ergab… ein Geschäft in der von uns besuchten Stadt. Wir haben zwar die Anzahl der herkömmlichen Läden nicht gezählt. Aber jeder kann sich das Verhältnis denken.
Die Problematik wird zusätzlich durch die Mentalität der Gesellschaft und die großen Preisunterschiede zwischen sogenannter Fair-Trade-Kleidung und herkömmlicher Bekleidung bestärkt. Die bekannten Marken gelten oft als Wegweiser in Sachen Mode und Trends, da können gerecht hergestellte Produkte nicht immer mithalten oder werden als unansehnlich abgestempelt. Auch achten wir sehr auf unsere Ausgaben, besonders in der Zeit, wo die Preise überall steigen und die Löhne auf dem gleichen Niveau bleiben. Je billiger, desto besser. So ist die Devise der meisten Bummler. Es zählt nur, ein Schnäppchen zu machen. Der Hintergrund, warum es so günstig ist, wird also oft außer Acht gelassen. Leider. Manchmal lohnt es sich, über den Tellerrand hinauszuschauen.
Kürzlich wurde in der Presse bekanntgegeben, dass einer der Konzerne 9 Millionen Dollar an die Familien der Geschädigten auszahlt. Es sieht nach einer schönen Geste aus, für mich ist es nur ein misslungener Versuch, sein Ansehen aufzubessern. Schließlich holt man keinen aus dem Tod zurück und macht keinen psychischen Schaden wieder gut. Reine Formalität. Um wie viel besser wäre das Leben der Arbeiter, wenn man damals die 9 Millionen in Lohnerhöhungen und Gebäudeinstandsetzung investiert hätte?
Nach einer Stunde machen wir uns wieder auf den Heimweg. Wolfgang hat keine Schuhe gekauft. Er trägt seine Alten weiter. Schließlich seien sie noch ganz in Ordnung.
Peter