Bella Italia (VI)

CefalúSizilien

„Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem.“ Wie wahr Goethes Aussage aus dem Jahre 1787 über die immer wieder hauptsächlich mit der Mafia assoziierte größte Insel Italiens auch heute noch ist, stellen wir auf der zunächst letzten Station unserer italienischen Reise fest.

Wir entscheiden uns gegen die Über-Nacht-Fährfahrt nach Sizilien und wandeln daher nicht ganz authentisch auf Goethes Spuren. Dafür verbringen wir gute zehn Stunden bei 40 Grad im vollen und trotz mit Klimaanlage ausgezeichneten unklimatisierten Zug. Zum Glück haben wir Sitzplätze reserviert, leider in einem ausgebuchten Sechserabteil, jeweils in der Mitte – rechts von mir schläft ein sehr korpulenter junger Italiener, links von mir ein schlanker aber dafür sehr alter. Gegenüber sitzen jeweils die Gefährtinnen und wissen auch nicht so recht  wohin mit ihren Körpern. Die Zugfahrt ist lang und anstrengend und leider fehlen uns wieder einmal die Italienischkenntnisse, um uns mit unseren eigenwilligen, aber sehr freundlichen Sitznachbarn unterhalten zu können. Trotzdem spendiert uns die alte Dame aus ihrer Thermoskanne den süßesten schwarzen Kaffee, den ich in meinem ganzen Leben getrunken habe. Wir fahren vorbei an den schönsten Stränden Kalabriens und wünschen uns so sehr, kurz aussteigen und ins kühle Nass springen zu können. Mit dem Zug fahren wir dann doch noch auf die Fähre – ein weiterer Grund dafür, warum die Fahrt insgesamt zehn Stunden dauert – und sehen das nur knapp drei Kilometer vom italienischen Festland entfernte Messina auf uns zukommen. Nach den letzten Kilometern bis Cefalú werden wir dort am frühen Abend von einem eigens für uns organisierten Taxifahrer vom Bahnhof abgeholt – „María?“, ruft es uns am Bahnhofsvorplatz entgegen und wir sind so froh, endlich am Ziel angekommen zu sein.

Cefalú

Durch die engen Gassen Cefalús bringt uns der Taxifahrer zu unserer nächsten Unterkunft und hält dabei – typisch italienisch – alle paar Meter an, um freundlich begrüßt oder empört angeschrien zu werden, er scheint einfach jeden hier zu kennen! Wir sind nun allerdings wirklich erschöpft und freuen uns über unsere kleine Wohnung mit Blick auf die engen Gassen und das lebhafte Geschehen. Allein wegen seiner orientalisch anmutendenCannoli Altstadt und dem weißen Sandstrand ist Cefalú den Zwischenstopp wert. Das Leben brodelt und wir wagen uns nach einem erfrischenden Bad in den Wellen gleich an zwei der typischsten sizilianischen Gerichte – Couscous di Pesce und Pasta con le Sarde, dem Nudelgericht mit Sardinen, wildem Fenchel und Rosinen, von dem auch Goethe auf seiner italienischen Reise schon schwärmte. Um am nächsten Tag auf „La Rocca“, den hohen Kalkfelsen, an dessen Grund sich Cefalú befindet, gelangen zu können, zahlen wir zarte drei Euro Eintritt und klettern ziemlich steil bergauf. Zum Glück ist es an diesem Tag ausnahmsweise bewölkt und wir schwitzen etwas weniger als sonst. Oben angekommen sind wir nicht nur tief beeindruckt von dem atemberaubenden Ausblick, sondern auch von den gut erhaltenen Ruinen antiker Heiligtümer wie dem „Tempio di Diana“. Plötzlich stehen wir vor dem überdimensionalen Kreuz aus Glühbirnen, das wir vorher nur im Dunkeln auf uns herabstrahlen sahen und das auf uns wirkte, als schwebe es über Cefalú. Nun wissen wir also, warum die Stromleitungen bis auf die 270 Meter verlegt wurden. Der Blick auf die gleichzeitig orientalische aber auch mittelalterliche Altstadt samt ihres alles in den Schatten stellenden Doms ist unbeschreiblich. Den Grundstein für den ältesten Sakralbau Siziliens aus der Normannenzeit ließ König Roger II. im Jahr 1131 legen. Nach sicherem Abstieg genießen wir noch ein paar Tage den herrlichen Strand, die hohen Wellen und die unfassbar gute Küche Cefalús, die selbst bei den aus der Hand zu essenden Gerichten überzeugt – von den verführerisch süßen Cannoli können wir ohnehin nicht genug bekommen, aber auch die Arancini, die knusprig frittierten Reisbällchen gefüllt mit unterschiedlichen Fleischsorten, Spinat oder Pecorino, überzeugen uns. Wir könnten ewig hier bleiben, aber eine wichtige Station steht noch an: die sizilianische Hauptstadt.

Palermo

„Unser erstes war, die Stadt näher zu betrachten, die sehr leicht zu überschauen und schwer zu kennen ist, leicht, weil eine meilenlange Straße vom untern zum obern Tor, vom Meere bis gegen das Gebirg’ sie durchschneidet […] das Innere der Stadt hingegen verwirrt den Fremden, und er entwirrt sich nur mit Hülfe eines Führers in diesem Labyrinthe.“

PalermoZum Glück habe ich einen solchen in der Hand und wir entdecken Palermo problemlos zu Fuß und mit staunendem Auge. Vor 200 Jahren noch eine der prächtigsten Residenzstädte Europas, litt Palermo seit 1945 unter Verfall und Verwahrlosung – seit den 1990er Jahren allerdings wird fleißig renoviert. Während uns der Empfang am Hauptbahnhof noch Angst einflößt – kommen wir aber auch gerade in dem Moment an, als eine Art sizilianische Tafel Essen ausgibt und der Ticketverkäufer mir rät, als ich ihn nach der richtigen Busverbindung fragen will, hier doch nicht so offen mit meinem Smartphone herumzufuchteln –, erwartet uns im Innern der Stadt eine Vielfalt an kulturellen Schätzen. Hier stehen byzantinische Kirchen neben Moscheen, barocke und katalanische Paläste neben klassizistischen Kasernen und arabischen Lustschlössern. Die imposante Kathedrale, die im Jahr 1184 im normannisch-arabischen Stil errichtet wurde, und ihr orientalischer Vorplatz beeindrucken uns ebenso wie das aus dem dritten Teil des Films „Der Pate“ bekannte Teatro Massimo oder die vielen exotisch bunten Straßenmärkte, für die Palermo gerade in den letzten Jahren immer bekannter geworden ist. Wir haben uns fest vorgenommen, auch hier alles zu probieren, was typisch sizilianisch ist und während ich mit meinen Auberginen mit  Parmesan noch sehr gut wegkomme, wagt sich mein Freund tatsächlich an das sagenumwobene „Pane con Milza“, das Milzbrötchen, heran. Ursprünglich wurde es um das Jahr 1000 von der hebräischen Gemeinschaft in Palermo für die christlichen Mitbürger kreiert, da die Arbeiter der koscheren Schlachtereien keine Vergütung für das Töten erhalten durften und daher dieses Brötchen – mit Milz in Scheiben, Lunge und Luftröhrenknorpeln, gebraten in Schmalz, mit Ricotta serviert und zahnstochergroßen Caciocavallo-Stücken bestreut – erhielten. Passend zu der Stimmung, die dieses Essen im Magen erzeugt, machen wir uns auf in die Kapuzinergruft von Palermo, „Le Catacombe dei Cappuccini“. Im Jahr 1599, dem Jahr, aus dem auch die älteste noch erhaltene Leiche in dieser Gruft stammt, hoben die Kapuzinermönche hier unterhalb des Klosters ein größeres Grabgewölbe aus, von dem sie bald feststellten, dass die Leichname dort nur wenige Zeichen der Verwesung aufzeigten. Fast 8000 mumifizierte Leichen kündigt der Einlasser uns nach einer Stunde Wartezeit während der Mittagsruhe an und bittet um Respekt den Toten gegenüber und darum, keine Fotos von ihnen zu machen – schließlich gibt es ja tolle Postkartensets der schönsten Mumien käuflich zu erwerben – soviel zum Thema Respekt. Der Anblick der Leichen ist widerlich! Erschreckend real und doch so künstlich stehen die halb verwesten Körper an den Wänden, teilweise weht ihre Kleidung im Durchzugswind. Es gibt einen Gang der Kinder, einen der Jungfrauen, der Intellektuellen … Die bekannteste Mumie hier ist die kleine Rosalia Lombardo. Wie eine Puppe liegt die Leiche der Zweijährigen als einzige unter einer Glasscheibe und wirkt unheimlich lebendig. Sie starb im Jahr 1920 an der Spanischen Grippe und ihr Vater wollte nicht, dass ihre Schönheit jemals schwindet. Eigenartig, diese Form der Trauerbewältigung…

Nun scheint es, als hätten wir alles gesehen und alles gegessen und ich habe nur noch einen letzten Wunsch: noch einmal dem Meer auf Wiedersehen sagen, noch einmal ins kühle Nass. Es ist schon spät und die Busfahrzeiten sind ungewiss, aber wir wagen es und es lohnt sich. Hohe Wellen zum Abschied an einem wunderschönen Strand etwas ab von Palermo und auf den Bus zurück müssen wir auch nur knappe sechzig Minuten warten. So bleibt uns immer noch genügend Zeit, an diesem letzten Abend von dem von uns als Lieblingslokal Palermos auserkorenem Abschied zu nehmen. Die Freundlichkeit und Offenheit, die uns in diesem von außen sehr unscheinbar daher kommenden Restaurant in einer kleinen Gasse fernab vom Stadtgeschehen erwartet, rührt uns ebenso wie die Belegschaft unsere Frage nach einem Erinnerungsfoto und der Abschiedsumarmung rührt. Wir sehen uns im nächsten Jahr!, versprechen wir, und das werden wir, denn Startpunkt für den dritten Teil unserer italienischen Reise wird ganz sicher Palermo sein.