„Daniel, mein jüdischer Bruder“ – Marianne J. Voelk gibt rührende Einblicke ins Nürnberg des Zweiten Weltkriegs

Voelk - CoverWährend der ZDF-Film „Das Zeugenhaus“ 2014 ein Jahr vor dem 70. Gedenkjahr der Nürnberger Prozesse ausgestrahlt wurde, erscheint der autobiographische Roman „Daniel, mein jüdischer Bruder – Eine Freundschaft im Schatten des Hakenkreuzes“ von Marianne J. Voelk nun ebenfalls knapp am 80. Jahr des Gedenkens der Nürnberger Rassengesetze vorbei – bedeutsame Beiträge zur offiziellen Erinnerungskultur leisten sie jedoch beide. Der Roman erschien am 15. Januar im Brunnen Verlag und zeigt Nürnberg als einen der zentralsten Orte in der Geschichte des Dritten Reichs.

Marianne J. Voelk bzw. im Buch Rosalie Bartels wird am Pfingstmontag 1933, im Jahr der Machtübernahme Adolf Hitlers, in Nürnberg geboren. Die Ich-Erzählerin berichtet von ihrer Geburt an von einem der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Neben ihren eigenen hat sie die Erinnerungen ihrer Eltern aufgeschrieben, und die ihrer Großmutter sowie die der jüdischen Nachbarsfamilie Rosenholz. Marianne J. Voelk erzählt von ihrer Kindheit im Nürnberg zur Zeit der Nationalsozialisten. Der Name Rosalie ist erfunden, alles andere – bis auf ein paar Schauplätze und einzelne zur Sicherheit beteiligter Personen anonymisierte Namen – ist genau so geschehen. Das Buch beginnt mit der Geburt Rosalie bzw. Marianne Bartels’. „Drei Wochen später w[ird] in der Nachbarsvilla Daniel geboren und mit ihm eine tiefe Freundschaft, aber im Dritten Reich ein Ding der Unmöglichkeit, denn Daniel [ist] Jude. Doch was kümmern Kinder Glaubensunterschiede oder Rassenwahn?“ Die beiden Kinder erleben eine Freundschaft wie Bruder und Schwester, genau als diese werden sie sich später ausgeben müssen. Das kündigt der Titel des autobiographischen Romans bereits an. Gute zwei Jahre nach der Geburt der beiden wird zum siebten Nürnberger Reichsparteitag das Gesetz zum „Schutz des deutschen Blutes“ erlassen, ein Gesetz, das grausame Veränderungen mit sich bringt und die Familien Bartels und Rosenholz nie wieder offiziell ihre enge Freundschaft ausleben lässt. Von da an nimmt die deutsche Geschichte ihren Lauf.

Bei der christlichen Familie Bartels und der jüdischen Nachbarsfamilie Rosenholz jagt ein Schicksalsschlag den nächsten, oder wie Dekan Christopher Krieghoff in seinem Geleitwort es formuliert „von Kapitel zu Kapitel dramatischer“ berichtet die Autorin von den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs. Was diese autobiographische Erzählung so besonders macht, ist dass sie aus Kinderaugen geschieht. Aus der Perspektive eines kleinen Mädchens, das diesen Hitler nicht versteht und für das die Juden doch auch nicht anders aussehen als sie, werden in „Daniel, mein jüdischer Bruder“ beeindruckend und anrührend zugleich zwölf Jahre deutscher Geschichte wiedergegeben.

Auf die Reichskristallnacht folgt der immer größer werdende Judenhass, der schon in der Schule vermittelt wird. Die Kinder verstehen die Welt nicht mehr, aber die Eltern können sie nicht länger vor der Wahrheit schützen. Rosalie und Daniel dürfen genauso wie die christlichen und jüdischen Eltern nur noch heimlich miteinander befreundet sein.

Der zweite Weltkrieg beginnt und Rosalies Vater muss an die Front. Schon beim ersten Heimatbesuch braucht er drei Tage, um wieder ‚der Alte’ zu sein und mit „sein[em] fröhliche[n] Lächeln“ am Frühstückstisch zu erscheinen. Obwohl Daniels Vater sich lange dagegen wehrt, sein Heimatland zu verlassen, entscheidet er sich letztendlich doch zur Ausreise in die USA. Eine Nacht bevor dies geschehen sollte, beginnt die eigentliche Dramatik dieses autobiographischen Romans.

Eine Nacht vor der Flucht aus Deutschland stürmt die Gestapo das Haus der Familie Rosenholz und nur der kleine Daniel schafft es, zu fliehen. Rosalie findet ihn völlig verstört in ihrem Baumhausversteck und für ihre Mutter steht es außer Frage, den Jungen bei sich aufzunehmen. Nun müssen die Kinder wirklich wie Bruder und Schwester miteinander sein, auch wenn Daniel sich zunächst im Haus versteckt halten muss. Für den Leser heutzutage unvorstellbar, schildert Marianne J. Voelk mit einer Selbstverständlichkeit ihre „Kindheitserinnerungen“. Ein Umzug aufs Land und ein paar gefälschte Urkunden und Zeugnisse ermöglichen dem Jungen endgültig eine neue Identität und mit zehn Jahren tritt er sogar der Hitlerjugend bei. Alles scheint wunderbar zu funktionieren, bis zu dem Moment, als Daniel bei einem Schulausflug stürzt und der unsympathische, sich der Mutter aufdrängende Doktor zum Schweigen gebracht werden muss… Dazwischen liegen immer wieder schlimme Nächte in Angst und Bombenangriffe, die beinahe ganz Nürnberg in Flammen aufgehen lassen. Mit einer sanften und einfühlsamen und gleichzeitig erstaunlich abgebrühten Schreibweise gelingt Marianne J. Voelk ein autobiographischer Roman der besonderen Art. Den Bogen zwischen Erfahrung und Geschehnissen, zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit so grazil zu spannen, gelingt nicht jedem Zeitzeugen.

„Ich habe Nürnberg brennen sehen“, erzählt mir die Autorin, als ich sie in ihrer Heimatstadt besuche. Eine Gänsehaut überzieht mich. 2014 hatte ich das Glück, die Autorin von „Daniel – mein jüdischer Bruder“ in Nürnberg, an dessen Rand sie heute noch mit ihrem Ehemann wohnt, zu besuchen und mit ihr die Schauplätze ihrer Kindheit zu erkunden. Sie zeigte mir den Gedenkstein der am 10. August 1938 niedergebrannten Synagoge am Hans-Sachs-Platz oder die Kreuzung, an der Daniels Onkel Noah Rosenholz mit seinem Fahrrad ein Auto der SS-Offiziere streifte und dafür ins KZ Flossenbürg geschafft wurde. Gemeinsam besuchten wir auch das Dokumentationszentrum auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in der unvollendet gebliebenen, für 50.000 Menschen ausgelegten und an das römische Kolosseum erinnernden Kongresshalle. Beeindruckender kann ein Zeitzeugenbericht vermutlich nicht sein.

Marianne J. VoelkMarianne J. Voelk hat ihre Geschichte dramaturgisch so durchdacht aufgeschrieben, dass man beim Lesen fast vergisst, dass es sich um eine Autobiographie handelt. Eine Seite nach der nächsten verschlingend kann man es nicht abwarten, zum Ende des Buchs zu gelangen und möchte dann am liebsten gleich wieder von vorn anfangen. Aus der Sicht eines Kindes schildert sie beinahe schon kühl unfassbare Geschehnisse. Ihre Freundin Annelise stirbt an Diphtherie, ihr Vater wird in Stalingrad als vermisst gemeldet, nach Kriegsende stirbt ein befreundeter Junge beim Sammeln von Granatsplittern, weil er aus Versehen auf eine noch funktionstüchtige Granate tritt. Der Zweite Weltkrieg wird zum „Kindheitserlebnis“, was für uns heute unvorstellbar wirkt, war damals Alltag. Die kleine Rosalie muss zusammen mit Daniel, Mutter und Tante ansehen, wie ihre „geliebte Heimatstadt“ niederbrennt, den „Untergang der berühmten Nürnberger Altstadt miterleben“. Durch Kinderaugen beschreibt sie: „Es lag ein rötlicher Schein über Nürnberg und vom Himmel sprühten Kaskaden von rotgelben Tropfen.“ Aber dennoch gibt es in dieser Geschichte ein positives Ende, denn Daniel hat den Zweiten Weltkrieg überlebt. Niemand sollte an diesem Buch vorbeigehen, ohne es gelesen zu haben. Eine unvorstellbare Geschichte, fesselnd erzählt.