Nachts ist man weniger allein

old-792136_1920Rezension

Ein Spaziergang durch die Nacht mit Mercedes Lauensteins Erstlingswerk: Vom Leben in der Großstadt und der Suche nach Gemeinschaft.

Eine Forscherin, die zur Nachtzeit durch die Straßen einer Großstadt läuft und nach erleuchteten Fenstern sucht, um bei deren Bewohnern zu klingeln und zu erfahren, was sie wach hält:  So lässt sich Mercedes Lauensteins Debütwerk Nachts (2015) kurz zusammenfassen: „Gibt es nur noch ein einziges erleuchtetes Fenster in einer ganzen Straße, bleibe ich stehen, blicke hoch und bete, dass es jetzt nicht erlischt.“ Hinter diesen Fenstern stehen 25 „Nachtmenschen“ und ihre Schicksale, die sich an Tragik nur so überbieten.

Die Stadt im Lichtkegel der Nacht

In der Erstauflage von Nachts ist keine Gattungszuweisunsg zu finden, dem Leser steht es demnach frei, sich selbst auszusuchen, was er da liest. Das Porträt einer Großstadt und ihrer Bewohner, eine Art Forschungsbericht oder gar ein ins Gegenteil verkehrtes Tagebuch? Dass Lauenstein eine gute Reportagen-Schreiberin ist, hat sie in ihren jungen Jahren bereits in der Süddeutschen Zeitung und in der brand eins bewiesen, und auch in Nachts lässt es sich deutlich erkennen.

Durch die genaue Beobachtungsgabe der Erzählerin werden nicht nur die Besuchten und deren Wohnungen lebendig, ebenso wird die Stadt zum Akteur. Bei genauem Hinsehen ist es auch die Stadt, mit ihren Straßen und Häusern, die in Nachts im Mittelpunkt steht. Sie wird in ihrer ganzen Vielschichtigkeit beschrieben und zeigt womöglich eine größere Variabilität als die Schicksale der Menschen. So befindet sich die namenlose Erzählerin mal in einer Straße, die eher einem Dorf gleicht oder im prallen Großstadtverkehr: „Ich stehe mitten auf der Straße. Unter der Eisenbahnbrücke fährt ein Laster hindurch und direkt auf mich zu, die Lichter verwischen durch die Tropfen, die jetzt doch in meine Augen geflossen sind, zu wabernden, gleißenden Lichtklecksen. Kurz bin ich wie hypnotisiert, dann dröhnte die Hupe des Lkws in meinen Ohren und ich springe zur Seite.“ Dieses typische, fast schon klischeehafte Bild Großstadtliteratur ist so prägnant erzählt, dass der Leser beinahe geneigt ist, selbst dem nahenden Laster auszuweichen. Lauenstein schreibt unaufdringlich eindringlich.

Einsamkeit macht sich breit

Doch genau diese Schreibe ist es auch, die für Nachts zum Problem wird. Die Geschichten, die die scheinbar kaum überrumpelten Menschen der Ich-Erzählerin anvertrauen, birgen einfach mehr Trübsinn in sich, als der Leser auf einmal ertragen kann. Dazu wiederholt sich der Grundtenor Einsamkeit leider stetig und bietet wenig Abwechslung. Da ist der verlassene Julian; Gustav, der nicht mehr schlafen kann, weil sein Schwiegervater nebenan vor Kummer weint: „Es ist dieser Schmerz, der im Wimmern des Alten liegt. Dieses einsame, hilflose Leid.“ Oder die sonderbare Annalena, die Mann und Töchter verloren hat und Trost in nächtlichen Zeremonien mit Krügen, Bechern und Schalen sucht. So viel Leid und geballte Einsamkeit sind einfach zu viel. Da fragt man sich schon – ist das Leben tatsächlich nur schrecklich und das Schicksal so unbarmherzig?

In den kurzen, einfachen, präzisen Sätzen Lauensteins spiegelt sich die Einsamkeit der Großstadtmenschen wieder, sie lassen die Leser mitleiden und die Verlassenheit überträgt sich auf sie: „Es ist einfach so ein Tag, an dem du traurig bist, sagt Chiara. […] Sie hat gerade keinen Job. Und ihre Oma ist tot. Und ihr Vater hat ihren Geburtstag vergessen. Und ihre Mutter ist nicht da. Ihre Mutter ist nämlich nie da.“

Lauensteins pure und klare Worte für die intimsten Begegnungen mit Menschen und deren traumatische Erlebnisse führen dazu, dass sich während des Lesens ein unangenehmes Gefühl im Leser breit macht. Ist es Betroffenheit oder Selbstmitleid? Egal, wie man es benennen will, dieses Gefühl kann dazu führen, dass man das Buch nicht zu Ende liest. Und genau das ist schade, denn ohne das letzte Kapitel geht die Gesamtkomposition des Textes nicht auf. Lauenstein hält Informationen zurück, die schon während des Lesens geholfen hätten, die Glaubwürdigkeit der Erzählungen zu stärken. Das mag daran liegen, dass Nachts Lauensteins erste längere Publikation ist. Die einzelnen Erzählungen stehen jede für sich, doch als Ganzes betrachtet, fehlt der Spannungsbogen.

Natürlich ist es auch ein Buch über die Nacht; das Gegenspiel von Helligkeit und Dunkelheit. Der Leser betritt gemeinsam mit der Erzählerin die Nacht „wie ein[en] zweite[n] begehbare[n] Raum neben dem Tag“, in dem man die Welt anders wahrnimmt als bei Tag. Und überhaupt geht es um Gegensätze: Lüge und Wahrheit, Gemeinschaft und Einsamkeit. Nachts steht als Titel über allem. Ein einsames Wort, das in einer Zeit, in der die Buchtitel nicht lang genug sein können, aber vollkommen ausreicht.

Mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft

Warum also ein so bedrückendes Buch lesen? Lauenstein verkauft uns die Einsamkeit als neue Volkskrankheit, gegen die kein Kraut gewachsen zu sein scheint. Und doch vermittelt uns ihre einfühlsame Beobachtung der Menschen eine Lösung: Vielleicht sollten wir das Forschungsprojekt einmal selbst in die Tat umsetzen, um der Einsamkeit innerhalb der Gesellschaft entgegenzuwirken. Doch das würde wahrscheinlich gar nicht mal daran scheitern, dass niemand die Tür öffnet, sondern daran, dass erst gar niemand klingeln würde!

Nachts führt uns die Realität des modernen Großstadtmenschen, wenn auch etwas überzeichnet, mit voller Wucht vor Augen. Das Forschungsprojekt erscheint teils unglaubwürdig und die Reaktionen der Besuchten ebenso, doch die Intensität und die simple Überzeugung der Sprache stimmen einen nachdenklich. Lauensteins Buch sollte man als Ansporn nehmen: Einerseits für die Autorin selbst, ihre literarische Arbeit weiterzuentwickeln, andererseits für den Leser, sich und seine Mitmenschen nicht allein im Dunkeln stehen zu lassen!

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