„Werther, der Werwolf“ – von den Leiden eines Gestaltwandlers
Der junge Werther musste schon unter Goethes Feder eine ganze Menge leiden. Susanne Picard zwang ihn 2011 mit Die Leichen des jungen Werther in eine Zombie-Romanze und in Wolf G. Heimraths Roman Werther, der Werwolf (2011) muss er sich nun auch noch als Gestaltwandler mit wilden Vollmondnächten und Wolfsgeheul rumschlagen. Wie in der Vorlage liest der Leser auch in dieser Adaption in Briefen davon, wie Werther sein Herz an die holde Lotte verliert. Die altbekannten Figuren, Werthers Freund Wilhelm und sein Rivale Albert, sind natürlich auch dabei. Außerdem gibt es noch den verstorbenen Grafen von W.
Bei Werthers ersten Begegnung mit Lotte verrät sie ihm, dass sie am liebsten Geschichten von übersinnlichen Wesen liest. Ja, was für ein glücklicher Zufall, dass der Werther gerade von des verstorbenen Grafen von W. gewaltigen schwarzen Hund gebissen wurde und ihm nun borstige Haare aus der Wunde wachsen. Daraufhin bemerkt Werther eine Wandlung seines Charakters, er spürt eine innere Unruhe anwachsen, die seine Instinkte weckt. Des Nachts träumt er vom Grafen und seinem Hund, der sagt: „Komm, komm nur, wir harren deiner.“ Was sich anbahnt ist das, was Werther noch nicht weiß, doch der Leser schon ahnt, nämlich seine Verwandlung in einen Werwolf.
Bald erkennt Werther die Vorteile seiner Veränderung, vor allem des Tiers Unfähigkeit zu Lügen fasziniert ihn und er sehnt sich immer leidenschaftlicher nach der braven Lotte, die ihrem Albert bereits fest versprochen ist. Die wachsende Eifersucht macht ihn rasend und irrsinnig und es wird ihm immer schwieriger seine Triebe zu beherrschen: „aber ich selbst muß mich ja in den Käfig sperren, den Käfig der Sittsamkeit, der Mittelmäßigkeit, der tumben Redlichkeit.“ Doch Lotte kann aus der Konvention, der sie sich versprochen hat, nicht ausbrechen und damit laufen Werthers Hoffnungen auf ein Liebesglück mit ihr unweigerlich auf ein Ende zu. Doch bevor Werther seine letzte Reise antritt geraten sie beide noch in ein Blutbad, und zwar in ein ziemlich ungewöhnliches.
Der Werwolf ist ein naturgewaltiges Tier. In Literatur und Dichtung ist er ein Symbol für zügellose Grausamkeit und Wollust, der böse abgrundtiefe Kern, der tief im Inneren schlummert und immer wieder an die Oberfläche zu drängen droht. Die Verwandlung, die gemäß den alten Mythen immer bei Vollmond geschieht, markiert einen Durchbruch des Tiers und gleichzeitig die Überwindung des Menschseins mit all seinen Konventionen und der Unterdrückung von Gefühlen und Emotionen wenn sie gerade nicht angemessen sind. Und es ist das, was Werther tut, wenn er Zeit mit Lotte verbringt. Er kämpft gegen seine Gefühle, wird zum Werwolf und verliert damit die Kontrolle über seine Handlungen und seinen Verstand. Der Wolf ist somit eine metaphorische Entsprechung seines Kontrollverlustes.
Wie in Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774) ist Lotte auch in Heimraths Roman ein Sinnbild des von der Vernunft bestimmten Bürgers. Obwohl sie sich zu Werther hingezogen fühlt und ihm auch etwas näher kommt, bleibt sie in ihrer von gesellschaftlicher Sicherheit getragenen Beziehung mit Albert verhaftet, um das Image des unschuldigen und liebreizenden Wesens zu erfüllen, das so gut in das gutbürgerliche Konzept passt. Goethes Werther dagegen schätzt seinen Sinn für Freiheit: „Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von Freiheit übrig bleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden […] nur muss mir nicht einfallen, dass noch so viele Kräfte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern und die ich sorgfältig verbergen muss“ (Reclam). Heimraths Werther, im Vergleich, lernt erst durch Lotte, was es heißt, seine innere Gefühlswelt einsperren zu müssen. Doch in beiden Geschichten zerbricht er schließlich an den starren Konventionen, denen Lotte ihre Liebe unterwirft.
Werther, der Werwolf
Wolf G. Heimrath
Wilhelm Goldmann Verlag, München
ISBN: 978-3-442-31248-1
192 Seiten
Bildquelle: Eigenes Foto