Von der Kunst, Vielfalt und Widersprüche auszuhalten

„Heutzutage hat man ja so viele Möglichkeiten“, heißt es oft. Vielfalt wartet überall auf uns und erschwert uns die Entscheidungen, die wir treffen müssen: Welche Serie schaue ich? Wo kaufe ich meine Kleidung? Welchen Studiengang wähle ich? Oder doch lieber eine Ausbildung? Welche Partei wähle ich? In welchem Supermarkt kaufe ich ein? Schwieriger noch: Für welches Produkt entscheide ich mich? Alles gibt es doppelt und dreifach – der Inhalt ist meist identisch, bloß der Hersteller variiert. Egal wohin man schaut, Vielfalt scheint uns in allen Bereichen des Lebens zu begegnen. Verwunderlich ist das angesichts unserer kapitalistischen Konsumgesellschaft natürlich nicht. Ob die Vielfalt jedoch eine tatsächliche Vielfalt ist, oder ob es sich hier vielmehr um eine Scheinvielfalt handelt, lohnt sich zu fragen.

Wir wollen uns in diesem Beitrag dem Arabisten und Islamwissenschaftler Thomas Bauer widmen, der in seinem Buch „Die Vereindeutigung der Welt“ dem Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt nachgeht.

Wirft man einen Blick auf die Tier- und Pflanzenwelt, wird schnell deutlich, dass wachsende Vielfalt sich nicht überall verzeichnen lässt. Beispielsweise ist der Vogelbestand in Deutschland in den letzten 200 Jahren um 80 Prozent zurückgegangen. Insekten trifft es noch schlimmer; sie kommen auch auf 80 Prozent, allerdings in einem Zeitraum von nur 25 Jahren. Etwa 70 Prozent aller Pflanzen gelten als gefährdet und Biologen befürchten das Aussterben jeder dritten Pflanzenart in den nächsten 30 Jahren. Nun gut, die meisten dieser Dinge konsumieren wir nicht – daher scheint es recht logisch, dass eben genau hier keine Vielfalt herrscht. Und über den Rückgang an Insekten beschwert sich vermutlich auch niemand.

Jedoch sieht es bei den Nutzpflanzen ähnlich aus. Von ursprünglich 30.000 Maissorten sind nur ein paar Dutzend übrig geblieben. Nur noch eine einzige Sorte an Bananen wird auf der Welt verkauft. Aus 20.000 Apfelsorten sind circa sechs geworden, die dem Kunden angeboten werden. Ein anderer Bereich, in dem die Vielfalt immer mehr verloren geht, ist außerdem die Sprache: Die Gesellschaft für bedrohte Sprachen stellt fest, dass knapp ein Drittel aller weltweit gesprochenen Sprachen innerhalb der nächsten Jahrzehnte aussterben werden.

Die Dinge präsentieren sich uns also oft als Vielfalt, sind im Kern aber gar nicht so verschieden. Vielfalt geht immer mehr verloren – kann aber doch nie ganz beseitigt werden, so Thomas Bauer.

Wie gehen wir damit um? Ist das gut oder schlecht?

Wie alles im Leben hat auch die Vielfalt ihre Vor- und Nachteile. Ganz unabhängig davon muss man aber zuerst einmal sagen: Vielfalt ist ein Grundcharakteristikum unserer Welt. Es gibt kaum etwas auf der Erde, was eindeutig in schwarz und weiß einzuteilen ist – zu allem existieren verschiedene Meinungen, verschiedene Praktiken, verschiedene Gefühle. Thomas Bauer nennt dies „Ambiguität“. Ambiguität bezeichnet das Phänomen der Mehrdeutigkeit, oder auch Uneindeutigkeit; kurzum: alles, was unterschiedliche Interpretationen zulässt, uns widersprüchlich oder unklar erscheint, oder keinen eindeutigen Sinn ergibt. Mit dieser Ambiguität gilt es umzugehen, und hierfür ist „Ambiguitätstoleranz“ notwendig – ein Begriff, der erstmalig im Jahre 1949 von Else Frenkel-Brunswik gebraucht wurde und in etwa folgendes bedeutet:

„[Das] Ertragenkönnen von Mehrdeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten, ungewissen und unstrukturierten Situationen oder unterschiedlichen Erwartungen und Rollen, die an die eigene Person gerichtet sind.“ (Spektrum)

Der Mensch tendiert dazu, alles benennen zu wollen, und hat den Drang, Kategorien für alles zu entwickeln. Das einfache „Sein“ reicht selten aus, stattdessen wollen wir die Dinge greifen und begreifen, damit sie verständlich gemacht werden und voneinander abgegrenzt werden können. Schubladendenken vereinfacht das Verstehen von Menschen, grenzt aber leider auch ein. Für Bauer ist all das nicht mehr als der aussichtslose Versuch, die Ambiguität zu beseitigen: Erscheint uns etwas nicht eindeutig genug, stellen wir Kategorien auf. Wenn diese Kategorien dann nicht mehr ausreichen, stellen wir neue Unterkategorien auf. Solange bis wir irgendwann merken, dass es Dinge unter der Sonne gibt, denen wir ihre Vielfalt vielleicht einfach erlauben sollten, ohne sie in eine Kategorie zu pressen.

Auch der Wunsch nach Authentizität beruht laut Bauer auf demselben Trugschluss. Wer versucht, authentisch zu sein, hegt unbewusst den Gedanken, dass ein wahres eindeutiges Selbst in ihm liege, welchem er treu bleiben müsse. Bauer widerspricht: „Aber Menschen sind nicht Naturwesen mit einem unverfälschten Inneren, das man, wenn man in sich hineinhorcht, finden kann, und das nur nach außen gestülpt werden muss.“ (Tagesspiegel) Denn ja, Ambiguität finden wir nicht nur zwischen verschiedenen Menschen, sondern auch in uns selbst – und gerade dort ist sie manchmal am schwersten zu tolerieren.

Ein anderer Bereich, in dem Ambiguität in all ihrer Fülle zu finden ist, ist die Religion. Schaut man sich das Christentum an, gibt es etwa 50.000 verschiedene Konfessionen. Manche größer, manche kleiner – sie alle berufen sich eigentlich auf dieselbe Sache, aber doch hat jede Gruppe ihre eigene Interpretation; ihre eigene Wahrheit. Hier zeigt sich wunderbar, wie Kategorienbildung funktioniert. Ein minimaler Deutungsunterschied ist oft schon Grund genug für eine Konfessionsaufgliederung, sodass nach und nach immer weitere Konfessionen entstehen, die sich teilweise sogar nur gering in ihren Interpretationen unterscheiden. Aber der Mensch braucht eben Schubladen, um sich abzugrenzen und zu sagen: „So bin ich nicht.“

Neben der Kategorienbildung wird hier außerdem deutlich, wie schwer wir Menschen uns mit der Ambiguitätstoleranz tun – denn anstatt einfach anzunehmen, dass verschiedene Menschen verschiedene Deutungen hervorbringen, pachtet jede Konfession die Wahrheit für sich und beansprucht die einzig wahre Interpretation der Bibel als Glaubensbasis. (Und das, obwohl die Bibel auch ohne jegliche Interpretationen schon voll von Ambiguität ist: Es gibt vier verschiedene Evangelien, zwei verschiedene Schöpfungsberichte… Wer nach Eindeutigkeit sucht, stößt hier schnell an seine Grenzen.)

Ambiguität entsteht oft unfreiwillig, kann aber durchaus auch bewusst eingesetzt werden. Zum Beispiel, wenn Formulierungen vage gehalten werden, um eine Art Spielraum für verschiedene Anwendungsbereiche zu öffnen. Das beste Beispiel dafür, so Bauer, sei der erste Artikel des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Der Satz werde durch seine vage Formulierung deutungsoffen und sei nicht abhängig von bestimmten Vorstellungen von Würde, die zu einer bestimmten Zeit gelten.

Ein Ausweg aus dem ganzen Deutungschaos, und gleichzeitig ein wunderbares Positiv-Beispiel für Ambiguität, ist übrigens die Kunst. Sei es Musik, Literatur, Theater, Fotografie… Eindeutigkeit ist hier meist fehl am Platz und gar nicht gewünscht. Künstlerische Kommunikation lebt von der Mehrdeutigkeit – sie will unterschiedliche Reaktionen und Auffassungen bei Betrachtern und Hörern hervorrufen. Bauer: „Ein Kunstwerk will also [gerade] nicht so eindeutig verstanden werden wie ein Verkehrsschild, sondern eröffnet Deutungs- und Assoziationsräume.“(Zeit)

Wie gehen wir also mit der Vielfalt um? Sie ist weder pauschal schlecht noch pauschal gut, sondern situationsabhängig. Es gibt Bereiche, in denen sind eindeutige Antworten wichtig und hilfreich. In vielen Fällen jedoch ist eher die Vielfalt wünschenswert. Dementsprechend sollten wir lernen, Widersprüche und Unterschiede wertzuschätzen; denn sie sind Teil des Lebens. Wir müssen begreifen, dass wir nicht alles voll und ganz verstehen können, und dass manchmal Fragen zurückbleiben, die wir nicht beantworten können. Thomas Bauer plädiert für mehr „Mut zur Vagheit“ – allerdings ohne dabei im Relativismus zu versinken; für seine Meinung darf und sollte man einstehen. Weg von einer Schwarz-Weiß-Welt und hin zu einer Welt der Mehrdeutigkeit.

Literatur: Bauer, Thomas (2018): Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. 12. Auflage. Reclam, Stuttgart.
Foto: Tomizak / pixelio.de