In der Vergangenheit wühlen

Wer kennt es nicht? Man hört ein Musikstück und fühlt sich plötzlich an eine Zeit oder an einen Moment zurückerinnert. Lieder können mit bestimmten Lebensphasen verknüpft sein, oder mit Erinnerungen an vergangene Erlebnisse. Oft ist das der Fall, wenn man die entsprechende Musik über einen längeren Zeitraum sehr regelmäßig gehört hat. Aber auch das Gegenteil kann vorkommen: Wenn ein Lied einen besonders außergewöhnlichen Moment begleitet, kann sich die Verknüpfung von Musik und Erlebtem so einprägen, dass wir gar nicht anders können als beim Hören des Liedes an den Moment zurückzudenken. Dafür müssen wir das Lied nicht einmal vorher gekannt haben.

Wir leben in einer Welt, in der einem immerzu gesagt wird, man solle nach vorne schauen. Sich auf die Zukunft konzentrieren, Pläne haben, abgesichert sein, und lieber nicht an Gestern festhalten. “Schau nach vorn, nicht zurück!”, heißt es, und wer sich zu viel in der Vergangenheit aufhält, dem könnte man vorwerfen, er habe ja nur Angst vor der Zukunft oder sei unzufrieden mit der Gegenwart. Und ganz abtun sollte man diesen Gedanken vermutlich auch nicht. Denn die Vergangenheit ist vorbei, und leben können wir eben nur im Hier und Jetzt. Aber dennoch möchte ich sagen: Es kann gut tun, hin und wieder mal zurückzuschauen und sich seine Erinnerungen zu vergegenwärtigen.

Eine schöne sprachliche Erklärung für das Phänomen des Sich-Erinnerns bietet die englische Übersetzung dieses Wortes, nämlich “to remember”. Es besteht aus zwei aneinandergefügten Teilen: re und member. Die Vorsilbe re bedeutet so viel wie “wieder” oder “zurück”, das Wort member bedeutet im Alltagsgebrauch “Mitglied”. Ein Mitglied bezeichnet eine Person, die irgendwo zugehört – etwas, was wir meist aus dem Kontext von Vereinen oder Institutionen kennen. Genauso wie die Person also zum Verein gehört, gehört auch unsere Vergangenheit zu uns. In dem Moment, in dem wir uns erinnern, wird das in der Vergangenheit Erlebte wieder ein Teil von uns, wir holen es zurück in die Gegenwart, verbinden uns damit, und erwecken es so wieder zum Leben. Etwas, was voneinander getrennt war, wird in dem Moment des Erinnerns kurzfristig wieder zusammengefügt.

Interessant ist außerdem der Zusammenhang zwischen Sprache und Zeitempfinden. Im Amazonasgebiet Brasiliens lebt ein Volk, welches aufgrund seiner außergewöhnlichen Sprache immer wieder Linguisten anzieht. Die Sprache der Pirahã kennt keine Vergangenheitsformen – alle Verben beziehen sich ausschließlich auf die Gegenwart. Ob das wohl dazu führt, dass diese Menschen sich generell weniger zurückerinnern?

Wie auch immer man seine Erinnerungen versprachlichen mag, das Zurückschauen hat seine Vorteile. Das stellten in den letzten 50 Jahren immer wieder Studien fest. Der Soziologe Fred Davis war in den 1970er Jahren der erste überhaupt, der nach den positiven Seiten der Nostalgie suchte, und diese auch fand. Aus seinen Studien folgerte er, dass die sentimentale Rückschau ein wichtiges Werkzeug sei, um eine eigene Identität schaffen und festigen zu können. Wer zurückschaut, sieht seine eigene Entwicklung. So kann ein Gefühl der Selbstkontinuität entstehen, wenn man erkennt, dass es einen “roten Faden” im Leben gibt.

Alte Filme oder Fernsehserien aus der Kindheit können diesen Effekt verstärken: Sie unterhalten uns auf besondere Weise und führen dazu, dass wir uns mit unserem früheren Ich vergleichen. Häufig lösen Kindheitserinnerungen auch ein Gefühl der Geborgenheit aus, was die positive Wirkung noch steigert.

Es lohnt sich also, hin und wieder bewusst nostalgische Gefühle zu erzeugen. Lieblingsmusik von früher, Filme aus der Kindheit oder alte Fotos – all das gehört zu uns und hat seinen Platz in unseren Erinnerungen. Nur sollte man sich natürlich nicht in der Vergangenheit verlieren, sondern akzeptieren, dass die alten Zeiten vorbei sind und sich nicht mehr reproduzieren lassen. Aber: Ein bisschen Nostalgie schadet nie. 😉

Quelle: spektrum
Foto: jarmoluk / pixabay