Linguistische Lücken
Jeder kennt das Gefühl, nicht die richtigen Worte zu finden, um das auszudrücken, was man eigentlich gern ausdrücken möchte. Selbst in der Muttersprache kommt dies immer mal wieder vor, egal wie groß der eigene Wortschatz auch sein mag. Interessant wird es, wenn man verschiedene Sprachen spricht und plötzlich merkt: Das, was ich in der einen Sprache formulieren kann, kann ich in einer anderen nicht vergleichbar verbalisieren. Mitunter mag das einfach am fehlenden Wortschatz liegen, insofern es sich um eine Fremdsprache handelt. Genauso gibt es aber gewisse Begriffe, die nur in bestimmten Sprachen leben – Begriffe, für die in anderen Sprachen keine Übersetzung mit einem identischen Bedeutungshorizont existiert. Inwiefern solche sprachlichen Lücken die Wahrnehmung unserer Welt beeinflussen, zeigt die Autorin Kübra Gümüşay in ihrem Buch Sprache & Sein auf.
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, lautet ein Zitat des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Aber lässt sich das überhaupt so klar differenzieren? Ist die Sprache nicht vielmehr ein Instrument, um die Welt zu beschreiben und sie uns zu öffnen? Kübra Gümüşay erzählt zu Beginn ihres Buchs eine kurze Geschichte: In einer warmen Sommernacht am Meer wird sie auf das wunderschöne Leuchten des yakamoz hingewiesen. Sie kennt das Wort zum damaligen Zeitpunkt nicht, sucht und sucht und sucht, kann aber nirgends ein Leuchten entdecken. Erst als ihr die Bedeutung des Begriffs erklärt wird, kann sie es auch sehen: Es ist die Reflexion des Mondes auf dem Wasser.
Ein klassisches Beispiel dafür, wie Sprache unsere Wahrnehmung steuern kann. Nun lässt sich natürlich nicht behaupten, dass dieses Leuchten ausschließlich von Menschen wahrgenommen werde, die in ihrer Sprache ein Wort dafür kennen. Jedoch schult Sprache unsere Sicht auf die Welt. Dinge, die nicht versprachlicht werden können, werden auch sehr viel willkürlicher und nebensächlicher wahrgenommen.
Ebenfalls interessant ist die Frage nach der Wahrnehmung von Raum und Zeit. Würde man hierzulande gebeten, die Bilder eines Menschen von der Geburt bis ins hohe Alter zeitlich zu sortieren, würde man höchstwahrscheinlich links mit den Kindheitsbildern beginnen und rechts mit dem höchsten Alter enden. Denn Zeit fließt für die meisten Menschen von links nach rechts, was zweifelsohne damit zusammenhängt, dass unsere Schriftsprache von links nach rechts läuft. Hebräisch- oder arabischsprachige Personen hingegen würden die Bilder von rechts nach links ordnen. Was aber, wenn wir in unserer Sprache gar keine Worte für rechts und links hätten? Im nordaustralischen Volk der Thaayorre ist dies der Fall. Dort werden Himmelsrichtungen verwendet, das bedeutet, schon im jungen Alter kann jeder punktgenau die Himmelsrichtungen benennen, selbst in geschlossenen Räumen. Zeit fließt in der Vorstellung der Thaayorre von Osten nach Westen – was dazu führt, dass auch chronologische Sortierung von Osten nach Westen vorgenommen wird. Im Experiment des Bildersortierens ordnen die Thaayorre die Fotos also mal von links nach rechts, mal von oben nach unten, mal diagonal – ganz abhängig davon, wie die Personen gerade sitzen und in welchem Verhältnis sie sich zu den Himmelsrichtungen befinden.
Linguistische Lücken lenken den Fokus unserer Wahrnehmung. Oft sind für uns nur die Dinge klar erkennbar, für die wir auch Begrifflichkeiten haben. Zum Problem wird dies, wenn wir gesellschaftliche Missstände benennen möchten, aber nicht die nötigen Mittel zur Beschreibung haben. Eine linguistische Lücke kann in diesem Fall zu hilfloser Sprachlosigkeit werden.
So war in den USA der Begriff „sexuelle Belästigung“ (sexual harassment) vor 1970 noch nicht weit verbreitet. Die Wissenschaftlerin Miranda Fricker zeigt an diesem Beispiel auf, wie problematisch es ist, wenn etwas nicht benannt werden kann. Dort, wo man den Begriff bereits kannte, herrschte kein einheitliches Bewusstsein darüber, was er genau beschrieb. Die Betroffenen hatten somit keine Möglichkeit, ihr Problem klar zu verbalisieren, ihre Realität blieb in gewisser Weise unsichtbar, weil sie sie sprachlich nicht für andere verständlich machen konnten.
Kübra Gümüşay spricht hier von dem Bereich zwischen Flirt und Vergewaltigung. Wenn damals eine Frau von sexueller Belästigung berichtete und aber keine Vergewaltigung stattgefunden hatte, konnte ihre Erfahrung aufgrund von vorhandenen sprachlichen Kategorien nur als Flirt und somit als harmlos eingeordnet werden. Erst als der Ausdruck der sexuellen Belästigung sich mehr und mehr in den Köpfen der Menschen verankerte, konnte ein Problembewusstsein entstehen, weil deutlich wurde, dass eben auch die Grauzone zwischen Flirt und Vergewaltigung ein Problem darstellt.
Um Problembewusstsein hervorzurufen, ist also eine klare Definition des Problems nötig. Eine lange Umschreibung reicht hier meist nicht aus, weil die Umschreibung dann automatisch von uns Menschen in bestimmte Kategorien eingeordnet werden will. Wenn die vorhandenen Kategorien aber nicht spezifisch genug sind, läuft man Gefahr, die Erfahrung einer Person abzuwerten, herunterzuspielen oder ihr ihre Ernsthaftigkeit abzusprechen. Kategorienbildung ist zwar gewiss nicht immer gut; in vielen Fällen aber ist sie nötig und wichtig.
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“. Noch ein zweites Mal die Frage: Lässt sich dies so sagen? Ich denke ja. Und nein. Es gibt Dinge, die nicht versprachlicht werden können oder müssen, die wir aber dennoch erleben oder empfinden. Nicht jede Sache, nicht jedes Gefühl muss benannt werden – manches kann auch ohne jegliche Verbalisierung wahrgenommen werden. Dennoch schafft Sprache Grenzen. Sie stellt Kategorien auf, sperrt Menschen ein, kann aber genauso auch befreien und Grenzen sprengen. Sie kann uns auf Dinge aufmerksam machen, die wir vorher übersehen haben und in diesem Sinne unsere Grenzen erweitern und den Rahmen neu spannen. In jedem Fall hat sie eine Macht, die nicht unterschätzt werden sollte.
Literatur: Gümüşay, Kübra. Sprache und Sein. Carl Hanser Verlag, Berlin.
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