Abschied oder Ankunft? – Teil 3: Im Luftschiff der Nihilisten

Erneut hob sie zu sprechen an und verlas das dritte Kapitel: »Es ist jedes Mal aufs Neue bemerkenswert, die Wolkendecke zu durchbrechen, findest du nicht?«, entgegnete Anastasia dem Trübsinn ihres Gegenübers, als sie ein Glas sprudelnde Brause an ihre Lippen führte und das Schiff über die Erde samt ihren allzu irdischen Belangen hinwegflog.

»Wir sind Nihilisten«, erwiderte Anastasias Gegenüber eindringlich. »Bisweilen müssen wir eine stoische Betrübnis an den Tag legen und uns unserer Emotionen entäußern, zu unbeschwerter Spontaneität gelangen.«

»Das ist philosophischer Nonsens! Und stilistisch dürftig obendrein. Was schreibst du da überhaupt?«

»Schreiben als Selbstverwirklichung«, sagte er mit ironischem Unterton.

»Verwirklichung welches Selbst?«

Beide lachten und erfreuten sich ihres überbordenden Ideenreichtums. Anastasias Gegenüber deklamierte:

»Dichter Regen ging nieder auf die bizarren Dächer jener weiten, verwinkelten Metropole. Ich saß bereits seit Stunden in einem ordinären Restaurant für Nudelsuppe. Mein Blick schweifte über die unverkennbare Mannigfaltigkeit der sich mir darbietenden und mich doch nur weiter betrübenden Eindrücke: In schillernden Spiegellichtern und abwechslungsreichem Treiben leuchteten die Kalkflecken einer Fensterscheibe auf meinem blanken Tisch hervor. Das animierte Manga-Girl auf dem Bildschirm durchdrang mich mit ihrem klaren Antlitz, ihren unermesslich tiefen grünen Augen. ›Gut, wenn wir schon sterben müssen, dann können wir auch kämpfen‹, sagte sie, immer wenn sie dem Gast zuzwinkerte und die Animation von Neuem begann. Beachtlich, dieser heitere Gestus der Lebensbejahung. Dass es sich allem Anschein nach leider um eine All-you-can-eat-Aktion handelte, konnte ich nur aus den mir rudimentär bekannten Katakana-Zeichen erschließen. Metaphysisch anspruchsvollere Reklame würde ich woanders vergeblich suchen. Auch dieses Etablissement verfügte sicherlich über eine Art Ruf, allerlei kulinarische Spezialitäten auf der Speisekarte, bestimmte Sonderangebote, einige Mitarbeiter des Monats (?) und insbesondere verfügte es über einen Namen: Seit jeher hatte ich es für belanglos oder gar unzuträglich erachtet, allen Erscheinungen unserer Welt einen Namen beizumessen, seien es nun Restaurants, Personen oder gar abstrakte Naturphänomene. Was bringt denn eine derartige Bezeichnung anderes zum Ausdruck als: ›Ich halte mich für einzigartig und trage daher nicht nur selbst einen Namen, sondern taufe sogar mein profanes Lokal, damit ich dem lamentablen Bedürfnis nach Selbstverwirklichung auf Erden Rechnung getragen habe, ehe mich der Abgrund der Individuation verschlingt!‹ Das Vorhandensein eines Namens unterstellt gemeinhin wahrhafte Eigentümlichkeit, seltsame Tiefe, bemerkenswertes Abgrenzungspotential vom Anderen, das man dann auch zur vollen Entfaltung gebracht sieht. Ob die gegenwärtigen Namensgebungen diesem Erfordernis genügen, stellte ich dem Dafürhalten meiner Leserin anheim. Das Beste: Sie machte keine, von meinen ›plastischen‹ Mitmenschen als ›gerechtfertigt‹ ausgewiesenen Einwände geltend, sondern bot ihr einfaches, aber doch bestimmt laszives Lächeln auf. Ich begann mich in ihrem Anblick zu verlieren.

Über die Rechtmäßigkeit meiner Hoffnung, dass zumindest hier, im fernen Osten, von solcherlei anthropomorphen Projektionen zurückhaltender Gebrauch gemacht würde, konnte ich mangels Sprachkompetenz nur fade Mutmaßungen äußern, um meinen sprunghaften Geist bei Laune zu halten. Man wird bedenkenlos die Müßigkeit einräumen von dergleichen … Unvermittelt wurde ich offenherzig angesprochen: Welche Frage müsste ich stellen, damit Sie mir eine interessante Geschichte zum Besten geben?‹ Ein westlich anmutender Herr blickte auf mich herab.«

Das Luftschiff schob sich mit beachtlicher Anmut durch die Wolkenmassen.

»Wohlan, der Sinn meiner Geschichte hat sich mal wieder verflüchtigt«, klagte er resigniert, als er sich an sein Gegenüber wandte. »Anastasia, so geht es nicht weiter. Meine schriftstellerischen Fähigkeiten haben unlängst ihren Gipfel überschritten. Wie verhält es sich bei dir?«

»Wie du weißt, halte ich meinen eigenen Erzeugnissen nichts zugute, ja werfe auf sie sogar einen noch strengeren Blick als auf die deinigen. Überdies ist es noch nicht weit gediehen.«

»Ich will sie hören. Die Geschichte.«

»Auf eigene Gefahr!«, beide lachten innig.

»Mein Begleiter hatte das Weite gesucht. Ungewohnt heftig hatten wir über die auf dem morgigen Kongress zu haltende Rede disputiert und waren nicht übereingekommen. Unser beider Schuld, unverbesserliche Perfektionisten. Zweifellos hielte er sich nun in einem dieser Nudelsuppen-Restaurants auf, für die er schon seit unserer Ankunft in der Metropole optiert hatte. Sicherlich säße er dort in einer Ecke, nähme seine Umgebung in Augenschein und kommentierte sie in der ihm eigenen argwöhnisch-sentimentalen Weise. Er skizzierte die melancholische Atmosphäre eines nachdenklichen Eremiten des Geistes und schlüge irgendwann eine Brücke zu vermeintlich ›philosophischen Räsonnements, wenn seine erzählerische Muße zur Neige ginge, und dozierte und dozierte über das Wesen der Individualität, den ihr gemeinhin beigemessenen Wert, der seines Erachtens zu hoch sei, der sich insbesondere in der Namensgebung manifestiere et cetera, et cetera. Ich dagegen irrte durch den nächtlichen Sprühregen und gewahrte immer wieder die dumpf aufscheinenden Straßenlichter, die den Bürgersteig zwar trübe beleuchteten, alle Passanten aber zu gespenstischen Phantomen machten. Nachdem ich unzählige Male erfolglos verschiedenste Lokale betreten hatte, wurde ich seiner schließlich ansichtig, wie er meiner Vermutung entsprechend in sich gekehrt jenes digitale Manga-Wesen beäugte. Ein Herr kam mir zuvor und brach seine Nachdenklichkeit unvermittelt auf. Langsam und bestimmten Schrittes ging ich auf die beiden zu und holte Luft. ›Nun hören Sie mal! Wir sind Übermenschen und bedürfen Ihres Rates in keiner Weise! Mein Begleiter lächelte, erhob sich und wir gingen unseres Weges.«

»Es ist überhaupt nichts weiter als eine assoziative Reihung wissenschaftlich und tief anmutender, aber im Wesentlichen flacher Gedanken. Der Umstand, dass die vermeintliche Wissenschaftlichkeit in der Kritik des Gegenübers besteht, tut diesem Defizit nicht den mindesten Abbruch.« Sie deutete an, wie sie den Text zerriss.

»Nein! Wir können einander lesen, das ist einzigartig. Unsere Texte passen zueinander wie Syntax und Semantik«, rief ihr Gegenüber mit ungewöhnlichem Enthusiasmus. Stille.

»Mitnichten«, mischte ich mich ein. Stille. Ich war ertappt. Trotz meines Widerwillens hatte ich unbedarft interveniert und den Verlauf meiner Geschichte maßgeblich beeinflusst. Die Unschuld meiner Geschöpfe war auf ewig besudelt. Resigniert blickte ich zu ihnen auf.

»Wer sind Sie?«, entgegneten beide verwirrt.

»Ich bin der Erzähler. Meinetwegen seid ihr unsterblich, wenngleich ihr niemals die Absicht dazu gezeigt habt.« Ich versuchte, finster dreinzublicken. Was sich nicht in Abrede stellen ließ, war die Tatsache, dass mich ihre Aufmerksamkeit in große Verlegenheit brachte. Geschöpfe begegneten ihrem Meister für gewöhnlich nicht.

»Was sind Sie denn für ein Erzähler?«, fragte Anastasias Gegenüber, während schon die Stahlträger erzitterten.

»Ein lausiger!«, antizipierte Anastasia, als sie das mir entrissene Manuskript studierte.

Ich eröffnete Anastasia mein Bedauern: »Unsere Begegnung hat mich dergestalt angerührt, dass … Ich neige schon zum Prosaischen. Meine Verfassung ist alles andere als …« Wiederholt erbebte der Boden.

»Warum schreiben Sie, dass wir Nihilisten sind?! Das hat keiner von uns je gesagt.« Tosender Lärm brach über die Kabine hinein.

»Keineswegs, es muss indes authentisch sein. Da hat der Schöpfer ab und an einzugreifen. Und ihr seid nichts weiter als die Geschöpfe«, erwiderte ich, mit größerem Ernst als beabsichtigt. »Sind wir nicht alle dem unbegreiflichen Charme des Nichts verfallen?«

Plötzlich schrie Anastasia, von positivem Elan erfüllt, als die Decke sich auftat. Es zog uns alle hinaus, in ferne Lande. An nichts weiter kann ich mich erinnern.

Nun war ich vollends konsterniert: Die Geschichten, welche die Frau neben uns auf der Bank zum Besten gab, erwiesen sich nicht mehr als distinkt; sie zerrannen in unseren Händen gleich flüssigem Wachs und ließen sich nicht mehr von der Welt unterscheiden, in die wir beim Betreten des Bahnhofs gelangt waren.

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Foto: privat