Milieustudien
Kurz vor Sonnenaufgang. Wie eine schwarze, mit weißen, aufleuchtenden Punkten versehene Serviette lagen die Dunkelheit und der Sternenhimmel noch über dem Land. Spitze, schwere Tropfen gingen unablässig auf mich nieder und beraubten mich jeglichen Eifers. Ich radelte die steril beleuchteten Wege entlang. Die Straßenlaternen zogen lange ausdruckslose Gesichter, während sie sich von ihrer ehernen Halterung aufmerksam zu mir herunterzubeugen schienen. Es war keine Verneigung, sondern vielmehr ein Akt falschen Mitleids und unehrlicher Fürsorglichkeit. Selbst in ihnen schlug mir ein Gestus tiefen Bedauerns entgegen, wenngleich ich mir des artifiziellen Charakters von dergleichen Projektionen mehr als bewusst war. Immer wieder aufs Neue schlich mein Schatten sich aus der Schwärze an, um mich widerstandslos hinter sich zu lassen und mir gleichsam den Rang abzulaufen. Eingetreten in das nächste Lichtintervall geriet ich erneut in denselben Zyklus und drohte mein Ziel aus dem Blick zu verlieren.
Ich kehrte heim von einem dieser illustren Abende, über deren sozialen Status man sich niemals klarwerden wird; von denen man niemals gewiss sein kann, ob man sie nun in freundschaftlicher Einigkeit zugebracht oder ihnen als gesichtsloses Phantom beigewohnt hat. War es mir gelungen, anmutig wie ein Schmetterling durch die Lüfte des regellosen Miteinanders zu segeln, oder hatte ich mich übernommen und angesichts der vielen hochgradig emanzipierten Individuen meine Eigentümlichkeit verwirkt? Hatte ich Konstanten in meinem sozialen Umfeld geschaffen oder war ich außen vor geblieben? Hatte man meine Anwesenheit geschätzt oder war ich einer unbegreiflichen Fehlannahme erlegen?
Oft konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es so etwas wie menschliche Konstanten überhaupt nicht geben konnte, dass es sich als hoffnungslos illusionär erwies, seinem Wunsch nach sozialer Beständigkeit Ausdruck zu verleihen, dass es letztlich jeder Vernunft entbehrte, in der tiefsten Einsamkeit dem gleichaltrigen Freundeskreis seine Beachtung zu schenken. Die Menschen sind im Wandel begriffen, sowohl in der eigenen Selbstvermittlung wie auch in ihrem Verhalten anderen gegenüber. Vor diesem Hintergrund sieht man sich berechtigt zu der Annahme, dass das soziale Leben in seiner Gesamtheit nur die Verewigung und Vervollkommnung eines wechselhaften Kreislaufs oberflächlicher Gespräche mit seichten Persönlichkeiten darstelle.
„Was schreibst du da?“, erkundigte sich mein engelsgleiches Gegenüber, das jetzt erst in allen seinen übermenschlichen Facetten an meinem inneren Auge vorüberzog und mir vollends bewusst wurde, als ich aus dem Rausch meiner Feder emportauchte. Sie hieß Anastasia.
„Das ist ein Text, um meine Zeit zu vertreiben. Schließlich reisen wir im Zug der Wartenden.“
„Wahre Worte. Gönnst du mir einen Blick?“
Forsch riss sie mir das Papier aus der Hand und ging den Entwurf mit beeindruckender Geschwindigkeit durch. Sie habe etwas Originelleres erwartet. Nun gut, aber auf irgendetwas müsse man ja seine Zeit ver(sch)wenden. Als Erzähler sei man schließlich konstitutiv unsterblich, was bleibe denn da auf Dauer anderes, als sich dem alltäglichen Gebaren gekünstelter Möchtegernwissenschaftler zu widmen?
Meinem Einwand bezüglich der inadäquaten Gleichsetzung von Autor und Erzähler entgegnete sie zu meinem Erstaunen, dass ja auch der Autor in einen diegetischen Zusammenhang eingebettet sei.
„Inwiefern bin ich denn Teil einer Geschichte?“
„Wir sitzen hier im sogenannten Zug der Wartenden, der unablässig über die leeren Kontinente braust, um einsamen und verlorenen Seelen einen Hauch von Sinnhaftigkeit zu erweisen. Diese Szenerie mutet in meinen Augen sehr literarisch an, nicht?“
„Bemerkenswert. Die Geschöpfe eines Autors werden sich ihrer selbst bewusst als Geschöpfe in einem erzählerischen Rahmen? Und dies ihrerseits nur aus Anlass einer Geschichte in der Geschichte?“
„Si, präzise – wenn auch unbegreiflich“, erwiderte sie charmant, als sie die wüsten Lande hinter ihrem Fenster in Augenschein nahm. Ich suchte mich vergeblich zu entsinnen, wo sie zugestiegen war, wo ich zugestiegen war.
„Was mag das bedeuten? Unser Gedächtnis schwindet.“
„Der wahre Autor will einen Kontrollverlust in seiner eigenen Geschichte unterbinden.“
„Ist er seinerseits real oder auch nur eine narrative Instanz?“
„Wer mag das wissen? Wir werden es nie vermögen, aus unserem Kontext auszubrechen, um die hochgradig komplexe Verschränkung vom Nirgendwo aus zu besehen. Wir sind Gefangene seines Textes, der unsere Welt bildet. Er könnte alles mit uns anstellen – faszinierend, oder?“
Mir graute vor ihrem amoralistischen Gedankenspiel.
„Gegenwärtig“, fuhr sie fort, „scheint er unsere ungeplanten Reflexionen noch mit Argwohn und vielleicht ein wenig ironisch zu betrachten. Doch wenn er die entsprechende Absicht zeigte, würden wir ihm ohne Widerrede unsere Dienstbarkeit erweisen.“
„Ich würde, so er den Wunsch hegt, die Scheibe einschlagen, hinausspringen und dich entgegen meiner spontanen Zuneigung mit in den Abgrund ziehen?“
„Si, präzise“, antwortete sie erneut, während sie im mondänen Bordrestaurant für einen Brausecocktail optierte. „Wir haben seinen noch so kleinen gedanklichen Regungen Folge zu leisten, noch ehe wir dessen eingedenk sind.“
„Und wenn er gerade beabsichtigt, uns mit einem Innenleben auszustatten? Und wenn er gerade keinen anderen Zweck in Betracht zieht, als uns zu verewigen?“
„Dann wären wir uns dessen ungeachtet nicht im Klaren über die Frage, aus welchen Phantasmen und Gedankenfetzen wir konstruiert worden sind.“
Der Kontrolleur bat um unsere Tickets und intervenierte unbedarft in das anregende Gespräch. Ich klatschte sogleich auf seine offen hingehaltene Hand, er nickte schweigsam und ging ernster Miene seines Weges. Mein Gegenüber konnte vor Lachen kaum an sich halten. Ihr Lachen war von solcher Leichtigkeit, dass es mich ansteckte. Mit tränenden Augen wandten wir uns um: Auch die übrigen Gäste im Wagen waren in heiterer Freude befangen, die jeder Schwermut spottete.
„Wird er uns des Wahnsinns bezichtigen?“, fragte ich unvermittelt, doch meine Stimme ging in ohrenbetäubendem Lärm unter. Der Drang meines Gegenübers, mir noch etwas mitzuteilen, bevor man endgültig Besitz von ihr ergriff, schwand ungemein, und auch meine Reflexion ließ sich in keine geordneten Bahnen mehr lenken.
Unvermittelt betrat der Zugführer das Abteil und bestellte beim Fahrkarten-Kontrolleur einen Drink.
„Wer führt denn dann den Zug?“
„Niemand. Wir warten ohnehin. Alle Gäste warten. Da wird man doch dankbar sein, wenn man sich diese süße Zeit ein wenig verkürzt, oder?“
„Das, das geht nicht“, erwiderte ich verblüfft. „Meine Geschichte, ich muss sie fertigstellen, als Teil einer anderen Geschichte; alles ist unvollständig sonst, wenn wir jetzt in den Abgrund stürzen!“
„Nun beherrschen Sie sich“, mahnte der Kontrolleur, als er ein weiteres gellendes Lachen von sich gab. „Soziale Reflexionen und Ihre sogenannten Milieustudien werden gemeinhin überbewertet, zumal wenn sie Teil einer erzählerischen Anomalie sind, einer narrativen Verschränkung.“
„Augenblick, woher kennen Sie den Inhalt meiner Geschichte?!“
Er wollte erwidern, doch der Zug entgleiste und alles verschwamm.
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Hierbei handelt es sich um einen rein fiktionalen Text, der als solcher zu behandeln und den allgemein anerkannten Grundsätzen gemäß zu lesen ist.
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