„Les rêveries du promeneur solitaire“ – Teil II

Jean-Jaques Rousseau ist zweifellos einer der wesentlichen Autoren der Epoche der Aufklärung. Diese Rolle ist ihm zweifelsohne zuzuerkennen. Dabei suchte Rousseau in seinem Schaffen und Denken oftmals die Opposition zu seinen Zeitgenossen, was ihn als kritisch-reflektierten Gegenpol einer fortschrittsgewandten Gesellschaft charakterisiert. Neben seiner Kritik an dem Selbstverständnis der intellektuellen Elite und der Weiterentwicklung der hobbesschen Vertragstheorie, ist auch sein Einfluss auf die Erziehungspädagogik herauszustellen. Das aber wohl persönlichste Werk stellt Les rêveries du promeneur solitaire dar. (Teil I)

Über die Rêveries

Bei Rousseaus Rêveries handelt es sich um eines der am wenigsten verstandenen und rezipierten Werke Rousseaus. Das Werk ist entgegen des hohen rhetorischen Anspruchs in Rousseaus früheren Arbeiten als schlicht zu bezeichnen. (vgl. Meier 2011: 17-24) Die Rêveries kommen ohne ein elaboriertes sprachästhetisches Konzept aus. Besonderheit erlangt dieses Werk durch seine Identität von Autor und Werk. Rousseau spricht von sich selbst, er und das lyrische Ich sind eine Person. (vgl. ebd.:25) Dabei vermittelt er jedoch den Eindruck sich nicht nur auf seine eigene Existenz zu berufen, sondern allgemein menschliche Erfahrungen mit in sein Werk miteinzubeziehen, die er mit seinen spezifisch-individuellen Erfahrungen kombiniert. Dies geschieht wohl aus dem Grund, mögliche Rezipienten dem Autor gegenüber Mitgefühl und Empathie abzunötigen. (vgl. Meier 2011: 27) Das erscheint mir merkwürdig. Die Rêveries sind nach Rousseaus eigenen Worten nur für ihn selbst bestimmt, warum sollte er nun auf die Gefühlsregungen anderer Rezipienten abzielen? Für mich bestehen zwei Deutungsmöglichkeiten: entweder Rousseau möchte bei seinem Leser, also ihm selbst, Mitleid erzeugen oder Rousseau schrieb seine „Träumereien“ doch nicht exklusiv für ihn selbst, sondern vor dem Hintergrund der Rezeption durch andere. Im Zentrum dieses Essay soll nun Rousseaus Verständnis von Sozietät in seiner ersten „Träumerei“ stehen. Ich möchte mich dem Gesellschaftsbegriff wie folgt nähern: zum einen werde ich Rousseaus Selbstbild bestimmen, um mich danach seinem konstruierten Fremdbild zu widmen. Davor erfolgen kurze Überlegungen zum Titel des Werks und zum Aufbau der ersten Rêveries. Quellenkritisch ist zu erwähnen, dass diese r Essay sich mit einer Übersetzung der Rêveries auseinandersetzt, dabei ist aufgrund des Charakters von Übersetzungen, wie akkurat sie auch sein mögen, immer mit Bedeutungsverlusten zu rechnen.

Zum Titel

Schon der Titel des Werks lässt mannigfaltige Schlüsse zu. Les rêveries du promeneur solitaire. Darin enthalten ist bereits das Element der Isolation durch den Verweis auf die Einsamkeit des Spaziergängers. Dieses wird explizit dadurch, dass Rousseau auch auf das Adjektiv des Alleinseins solitaire hätte verzichten können, wenn er denn gewollt hätte. Denn die Präposition du zeigt bereits an, dass es sich bei dem Spaziergänger um eine einzelne Person handelt. Rousseau legt somit den Fokus bewusst auf den Zustand der Isolation, die er im Korpus weiter ausführt. Dabei wählt Rousseau das Substantiv des Traumes oder der Träumerei, um eben nicht eine spezifische Erwartungshaltung beim Rezipienten zu wecken. Er erhebt keinen Anspruch auf eine wissenschaftliche Gültigkeit oder Relevanz der „Träumereien“. Der Begriff der Träumerei hat etwas Beiläufiges, spontan Entstehendes aber auch Sehnsüchtiges an sich, wobei klar ist, dass es eben keine kritisch-selbstbezogene Tätigkeit wie das réfléchir ist. Einen weiteren vorausgriff auf das Textkorpus macht Rousseau durch den Verweis auf die Tätigkeit des Spazierengehens. Denn anders als in der deutschen Sprache wird das Verb reflexiv gebildet. Der Infinitiv lautet also se promener, frei übersetzt: mit sich selbst spazieren gehen oder sich spazieren führen. Wenn man Rousseaus Äußerung aus seiner ersten Träumerei ernst nimmt „mit dem [Rousseau] kann ich verkehren wie mit einem jüngeren Freund“ (Rousseau 2003: 17), dann nimmt er auf die Reflexivität explizit Bezug. Rousseau ist dem Titel nach also gar nicht allein sondern er befindet sich in seiner eigenen Gesellschaft.

Zur Gliederung der ersten „Täumerei“

Rousseau beginnt seine erste Rêverie mit einem Paukenschlag: „So bin ich nun allein auf dieser Welt, habe keinen Bruder mehr, keinen Nächsten, keine Gesellschaft außer mir selber.“ (Rousseau 2003: 7) So beginnt Rousseau den Bericht über seine derzeitige Situation. Diesem reichlich pathetischen Auftakt folgt eine Attribuierung der Menschen, die ihn aus der Gesellschaft verstoßen haben. Gleichzeitig charakterisiert er sich als „gesellig […]“ und „warmherzig […]“, der trotz dessen den „Hass“ (ebd.) der Gesellschaft auf sich gezogen habe. Während die ersten Zeilen im Tempus des Präsens verfasst sind, also den Istzustand abbilden, ist der folgende Abschnitt zu großen Anteilen im Präteritum gehalten. Dabei ist ein Schema erkennbar. Wenn Rousseau sich auf seine Gefühle bezieht verwendet er häufig das Präsens, wenn er seine Situation historisch plausibilisiert, verwendet er häufig das Präteritum. Beginnend auf der siebten Seite steht nur die historische Plausibilisierung seines jetzigen Zustands im Fokus. Dabei erwähnt er die gesellschaftlichen Gruppen, auf die er Bezug nimmt, nur am Rande. In diesem Abschnitt, der von Seite sieben bis elf reicht, stellt er die Umstände vor, die ihn in diese Isolation getrieben haben. Innerhalb dieses Abschnitts geht er immer wieder auf die Strategie ein, die er anwandte, um diese gesellschaftliche Abwendung doch noch abzuwenden, wobei er zu dem Schluss kommt, sich ungeschickt verhalten zu haben. So gibt er in einem Einschub auf Seite elf jede Hoffnung auf eine Rehabilitierung zu Lebzeiten auf und sagt sich von der Gesellschaft los: „Nun jedoch hat ein […] Ereignis diesen matten Hoffnungsschimmer aus meinem Herzen getilgt.“ (Rousseau 2003: 11) Folgend reflektiert Rousseau darüber, wie sein Vermächtnis in der Gesellschaft gewürdigt werden wird, wobei er auch hier seine Hoffnung, die er auf zukünftige Generationen gesetzt hatte, verwirft. Dieser Teil erstreckt sich von Seite elf bis vierzehn, in welchem er seine historische Aufarbeitung abschließt und seine Intention für die Rêveries offen legt, „Daher muss und will ich mich nur mit mir selbst befassen.“ (ebd.: 14) Im letzten Teilabschnitt seines ersten Spaziergangs formuliert Rousseau nun den Nutzen der Spaziergänge für ihn selbst, denn er hätte sich nicht schriftlich fixieren müssen. Er schreibt sie um seiner selbst willen um sich in seiner eigenen Gesellschaft zu befinden und um mit seinen eigenen Gedanken ins Zwiegespräch treten zu können: „Den Menschen zum Trotze koste ich dann [durch die Rêveries] also doch noch einmal die Freuden der Geselligkeit: als Gefährten habe ich ja jenen, der ich früher war, und mit dem kann ich verkehren wie mit einem jüngeren Freund.“ (Rousseau 2003: 17) Rousseau geht dabei nach keiner festen Methode vor, da er die Sprunghaftigkeit des menschlichen Geistes abbilden möchte.

Zum Gesellschaftsverständnis in der ersten „Träumerei“

Rousseau wirft bereits am Anfang die Frage auf, die bereits in der Einleitung gestellt wurde: „Ich aber, losgerissen von ihnen und Welt: was bin ich selbst?“. (Rousseau 2003: 7) Diese Frage zu klären, hat dieser Essay zum Inhalt, dennoch sollte sie erst einmal lauten: Was ist Rousseau? Und was ist die Gesellschaft? Diese Fragen sollen im Folgenden geklärt werden. Ausgehend von einer Klärung des Gesellschaftsbildes oder Fremdbildes, das Rousseau zeichnet, werde ich mich dem Selbstbild Rousseaus widmen. Daraus folgend sollen die Wechselwirkungen von Individuum und Gesellschaft greifbar gemacht werden, also: Was ist der Mensch ohne Gesellschaft? Was bleibt ihm?

Zum Fremdbild

Rousseau entwickelt in seinem ersten Spaziergang ein sehr negatives Gesellschaftsbild. Dabei verweist er auf das Element der psychischen Gewalt, die ihm angetan wurde: „und so zerstörten sie alles, was mich noch an sie [die Menschen] band.“ (Rousseau 2003: 7) Rousseau geht mit seiner Charakterisierung aber noch weiter, so disqualifiziert er seine Zeitgenossen als Unmenschen oder anders: Er spricht ihnen ihre menschlichen Qualitäten ab: „Ich hätte die Menschen auch gegen ihren Wunsch geliebt. Nur indem sie aufhörten, Menschen zu sein konnten sie sich meiner Zuneigung entziehen.“ (ebd.) Im Folgenden spricht Rousseau dann von „Wesen“, „Fremden“ und „Unbekannten“. (Rousseau 2003: 7) Diese von ihm gewählte Terminologie findet keine konsequente Verwendung. Wenige Zeilen später spricht er schon von „de[m] Übergang der Menschen zu [ihm]“ davon, dass diese Haltung nicht reversibel sei, denn „[v]ergebens würden sich die Menschen mir wieder zuwenden“ (Rousseau 2003:11) oder mit einem anderen Blickwinkel auf seine Lage: „Ich bin unter den Menschen fortan ein Nichts“ (ebd.:16). Wenn man dieses Faktum polemisch betrachtet, dann kann der Graben zwischen Rousseau und den „Menschen“ ja gar nicht so groß sein, da er sie durch den Gebrauch des Wortes Mensch, wieder als solche anerkennt. Eine andere Frage, die sich stellt, ist: Wer sind diese Menschen, von denen Rousseau spricht? Einerseits bezieht er sich auf spezifische Gruppen, die „Ärzte“ und die „Oratorianer“ (Rousseau 2003: 13) und andererseits auf die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Rousseau setzt also in seiner Attribuierung die Merkmale weniger mit den Charakteristika der gesamten Gesellschaft gleich. Dies halte ich für eine sehr fragwürdige Generalisierung, die Gesellschaft als homogene Einheit zu betrachten. Ich denke diese Generalisierung ist kein Auswuchs einer neutralen Sichtweise, sondern vielmehr aus der Enttäuschung Rousseaus über die erst genannten spezifischen Gesellschaftsteile heraus zu verstehen. Wie ist nun diese Gesellschaft, und ich folge damit zumindest im argumentativen Sinn Rousseaus homogenen Gesellschaftsverständnis, charakterisiert? Ich denke folgendes Zitat könnte Erhellung bringen: „Dass eine ganze Generation sich ein Vergnügen daraus macht mich lebendig zu begraben […]“. (Rousseau 2003: 8) Rousseau unterstellt der Gesellschaft ihn willkürlich und zu ihrer eigenen Unterhaltung zu quälen, zu missachten, und vor allem nicht zu respektieren. Das Ziel der Menschen ist es, Rousseau größtmögliches Leid zuzufügen. Seine Zuschreibungen beziehen sich nicht nur auf seine Zeitgenossen, sondern auch auf zukünftige Generationen. (vgl. ebd.: 12-13) Dabei hatte er die Hoffnung von zukünftigen Generationen positiv wahrgenommen, ja rehabilitiert zu werden. Wenn er, wie er es anfänglich tut, den Menschen als solches diskreditiert, dann scheint es geradezu inkonsequent auf eine Änderung des Charakters des Menschen zu hoffen. Hier ist fairerweise darauf hinzuweisen, dass Rousseau auch diese Einschränkung macht, trotz dessen halte ich seine Haltung diesbezüglich für inkonsistent. Diese Macht, die der Gesellschaft über Rousseaus Gemütszustand aufgrund seiner eigenen Einschätzung zweifellos zukommt, wird von ihm selbst gebrochen: „Sie sind ebenso unfähig, ihren Angriff zu verstärken, wie ich es bin, ihm auszuweichen.“ (Rousseau 2003: 9-10) Welcher Angriff? Welcher Art? Wer ist diese Gruppe die ihn angreift? Rousseau bleibt in seinem Grundtenor äußerst pessimistisch und negativ und gibt außer allgemeinen Formulierungen keine Erklärungen zu den geäußerten Fragen ab. Ich denke Rousseaus Attitüde ist folgend treffend formuliert: „Kann aber Rousseau nicht exemplarisch handeln, dann lehnt er jede Verantwortung ab und stilisiert sich zum exemplarischen Opfer.“ (Spaemann 2008: 10) Da Rousseaus Bild vom Menschen oder der Gesellschaft ein ausgesprochen Negatives ist, welche Eigenschaften schreibt er sich selbst zu? Trägt er eine Schuld an seiner jetzigen Situation?

Zum Selbstbild

Rousseaus Selbstbild ist eigentlich folgendes: Alles was die Gesellschaft ist, ist er nicht. Mit dieser verknappten Analyse möchte ich mich natürlich nicht begnügen. Rousseau sieht keinerlei Veranlassung eine Teilschuld bei sich zu suchen. Er gesteht sich ein fehlerhaftes Vorgehen in Bezug auf die Erwiderung der Anschuldigungen gegen ihn ein, aber eben kein Fehlverhalten, das sich auf seine vorhergegangenen Handlungen bezieht. So sieht er nicht seine Handlungen als Grund für seine Situation, sondern seine positiven Eigenschaften, dass er „offen“, „aufrichtig“ und „unverstellt“ (Rousseau 2003: 9-10) ist, sei ihm zum Verhängnis geworden. Hier wird deutlich, dass Rousseau sich überhöht. Sein selbstgewählter Rückzug aus der Gesellschaft kommentiert er mit den Worten: „sie wollten es ja nicht anders“ (ebd.: 7), woraus ein großes Maß an Trotz herauszulesen ist. Auch spart er nicht, wie bereits erwähnt, mit Schuldzuweisungen: „Ihre eigene Ungerechtigkeit stellen sie als mein Verbrechen hin“. (Rousseau 2003: 13) Dabei erscheint ihm der gegenwärtige Zustand „wie ein Traum“ (ebd.: 7), aus dem er nur erwachen müsse. Hier zeigt sich bereits die Ambivalenz in Rousseaus Denken, denn er entsagt einerseits selbstbestimmt der Gesellschaft, spricht aber davon, dass es ihm wie ein Traum vorkäme, er sich also zumindest nicht beschweren würde wieder Teil dieser Gesellschaft zu sein. Man kann es aber auch weniger kritisch als Metapher verstehen, die Rousseau anbringt, um dem Rezipienten den surrealen Charakter seiner Situation zu illustrieren. Man hat das Gefühl, der Schritt des Austretens aus der Gesellschaft sei eine Reaktion auf den bereits erfolgten Ausschluss. Denn bevor Rousseau sich dazu entschied diesen Weg zu beschreiten, war er ja eigentlich schon nicht mehr Teil der Gesellschaft. Ich halte Rousseaus Maßnahme für eine Art Selbstschutz, denn er hat keine anderen Handlungsmöglichkeiten, der Weg in die Gesellschaft ist ihm versperrt. Er würde gern in die Gesellschaft zurückkehren, kann aber nicht. Dies wäre eine kritische Interpretation. Wenn man dieser Interpretation folgt, ist Rousseau zum Bourgeois geworden, der seine eigenen Neigungen verleugnet, nämlich von der Gesellschaft respektiert zu werden. Eines muss man Rousseau zugutehalten: Er wirkt verletzt, gekränkt, enttäuscht, aber nie kraftlos.

Eine Ethik der sozialen Isolation?

Nachdem nun das Selbst- und Fremdbild ausreichend umrissen wurde, möchte ich mich neben der bereits erfolgten kritischen Interpretation der ersten Rêverie einer transzendentalen Interpretation widmen. Was ist nun das Ergebnis, wenn man aus der Gesellschaft heraustritt? „Dieser Verzicht hat mir innere Ruhe verschafft, die mich für all mein Leiden entschädigt und zu der ich niemals gelangt wäre, wenn ich den aufreibenden, letztlich aber fruchtlosen Widerstand fortgesetzt hätte.“ (Rousseau 2003: 7) Der Lohn eines einsamen Lebens ist also die Kontemplation. Diese generelle Ableitung ist natürlich aus Rousseaus Beschreibungen transzendiert, denn auch hier gilt die individuelle Subjektivität. Inwiefern aber ist diese Ruhe mit Gesellschaftlichkeit verknüpft? Kann man ebenjene Ruhe nicht auch innerhalb der Gesellschaft erfahren, so wie Rousseau sich mit seinem Idealtyp des Citoyen oder homme naturelle vorgestellt hatte? „Von den Plagen des Erschreckens haben sie mich nun befreit, und zwar endgültig: und das ist doch wohl eine Erleichterung.“ (Rousseau 2003: 10) In meinem Verständnis ist dieses Postulat Rousseaus ambivalent, wie er selbst. Einerseits ist die Loslösung von Hoffnungen und Ansprüchen an die Gesellschaft als positiv beschrieben, dennoch bietet sich auch eine andere Deutung an. In dem man das Adjektiv wohl näher betrachtet. Es sollte eine Erleichterung, es sollten die positiven Elemente überwiegen. Ob sie dies tun?, ist, zumindest meiner Deutung nach, nicht eindeutig klar. Rousseaus Philosophie weist große Parallelen zur Schule der Stoiker auf: „Seit ich mich ihm [dem Schicksal] bedingungslos ergeben habe, herrscht wieder Frieden in mir.“ (Rousseau 2003: 11) Ruhe, die an Apathie grenzt, Gelassenheit innerer Frieden sind Elemente, die sich so oder in ähnlicher Form auch in der Lehre der Stoa wiederfinden lassen. Ein entscheidender Unterschied ist jedoch der bewusste Rückzug Rousseaus aus der Gesellschaft, der, wenn man ihm glauben schenkt konstitutiv für diesen Zustand der Seelenruhe ist: „ich bin in meiner Einsamkeit hundertmal glücklicher, als ich es in ihrer Mitte sein könnte.“ (ebd.: 12) Rousseaus Modell braucht also die soziale Isolation, um zu funktionieren, denn ohne eine völlige Lossagung, ob dies nun gedacht oder gelebt wird oder nicht sei hierbei nicht von Belang, von gesellschaftlichen Zwängen ist die vollkommene Selbstidentität des Menschen nicht möglich. Denn auch die kleinste gesellschaftliche Erwartungshaltung, sei es Etikette oder eine gesellschaftliche Rolle, kann diese Selbstidentität gefährden. So stark wie vorangegangen formuliert, möchte ich nicht gehen, aber durch die allumfassende Isolation kann eine Verquickung von Schein und Sein vermieden werden. Auch die kleinste gesellschaftliche Rolle kann immer größere Ausmaße annehmen. Durch einen vollkommenen Rückzug hat Rousseau „in dieser Welt fortan weder etwas zu erhoffen noch zu befürchten. (Rousseau 2003: 13) Dabei scheint Rousseau mit sich selbst im Einklang zu sein, „denn nur in mir finde ich Trost, Zuversicht und Frieden.“ (ebd.: 14) Die erfolgten Überlegungen setzen voraus, dass Rousseau das, was er formuliert, auch empfindet. Es wäre auch denkbar, dass er entgegen seinen Beteuerungen eben doch eine Rezipientenschaft im Auge hatte, und sei es nur, um seine Zeitgenossen dadurch zu verärgern, dass er nun eine Art innerer Ruhe gefunden hat. Dabei kann seine Haltung auch als eine moderne Schuld abweisende verstanden werden: „Die Schuld traf diejenigen, die nicht ´alles´ möglich machten, also andere ´die Gesellschaft´. Niemand hat diese moderne Attitüde so exemplarisch vorgelebt wie Rousseau.“ (Spaemann 2008: 116)

Foto: Michael Ottersbach // https://www.pixelio.de/media/803097

Literatur

Meier, Heinrich: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries in zwei Büchern. München 2011.

Rousseau, Jean-Jacques: Träumereien eines einsamen Spaziergängers (1959). Stuttgart 2003.

Spaemann, Robert: Rousseau – Mensch oder Bürger. Das Dilemma der Moderne. Stuttgart 2008.