Teil der Show – Wer wird heute noch Ministrant?

„Bist du auch Samstagabend auf der Party?“

„Nein, Samstagabend hab ich Dienst.“

„Oh, was denn für ein Dienst? Bist du bei der Freiwilligen Feuerwehr oder so?“

„Ne, ich bin Messdiener. In der Kirche.“

„Echt? Warum das denn? Aus dem Verein bin ich schon lange ausgetreten. Ist eine Frechheit, was die einem an Kirchensteuern abknöpfen – und dann die ganzen Missbrauchsfälle. Überhaupt, findest du den Laden denn wirklich noch zeitgemäß heutzutage?“

Und dann steht man plötzlich da und fühlt sich gezwungen, seinen Glauben, seine Religion, seine Kirche und gewissermaßen auch sich selbst zu rechtfertigen. Es liegen oft nur wenige Schritte zwischen dem sicheren Boden einer leichten, beiläufigen Konversation und dem dünnen Eis polarisierender Themen. Kirche ist eines davon, zumal unter „jungen Leuten“.

Clauß Peter Sajak und Katharina Schulze Pröbsting veröffentlichten 2020 den Artikel „Ich bin durch den Dienst Teil meiner Gemeinde“, in welchem sie die Ergebnisse einer explorativen Studie zu Selbstverständnis, Motivation, und Religiosität von Ministranten darstellten, die sie zwischen September 2019 und Januar 2020 in 13 verschiedenen Regionen aus den vier (Erz-) Diözesen Münster, Paderborn, Freiburg und Köln erhoben hatten. Insgesamt nahmen 191 Ministranten, 52,4 % davon weiblich, zwischen 9 und 51 Jahren (durchschnittlich 16 Jahre alt) an der Fragebogenstudie teil. „Auf die Frage, ob sie schon schlechte Erfahrungen in Gesprächen gemacht haben, in denen über Glaubensfragen diskutiert wurde, äußerte sich fast ein Drittel der Befragten zustimmend. Etwas mehr als ein Viertel sieht sich oft in einer Rechtfertigungsposition für ihr Engagement“1.

Messdienen

Obwohl die Kirchenbänke zu Gottesdiensten immer spärlicher besetzt sind, bleibt die Anzahl der Ministranten überraschenderweise relativ konstant. Der Broschüre „Katholische Kirche in Deutschland – Zahlen und Fakten 2022/2023“ der Bischofskonferenz ist zu entnehmen, dass sich aktuell rund 360.000 Kinder und Jugendliche ehrenamtlich als Messdiener in Deutschland engagieren2. „Mit durchschnittlich etwa zwei Diensten pro Monat und einem Gottesdienstbesuch außerhalb ihrer Dienstzeiten kann eine regelmäßige Teilnahme an liturgischen Feiern festgestellt werden, die weit über der Besuchsquote ihrer Altersgruppe liegt“1.

Wer römisch-katholisch getauft ist und die Erstkommunion empfangen hat, darf Ministrant werden und fortan den Priester während der heiligen Messe unterstützen. Dazu gehört beispielsweise der Evangeliengang mit Kerzen, die Gabenbereitung zur Eucharistie, das Läuten der Wandlungsglocken während des Hochgebets oder die erste Lesung aus dem ersten Testament als Lektor. Zu besonderen Feiertagen kommen manchmal auch Weihrauchfass und Schiffchen oder Weihwasser zum Einsatz. Neben dem Dienst am Altar organisieren ältere Messdiener aber auch Gruppenstunden, Ausflüge und Reisen für jüngere Messdiener und Kommunionskinder, um die Gemeinschaft der Ministranten zu stärken und Gutes zu tun.

Persönlichkeitsentwicklung

In der Kirche tragen viele Kinder von neun oder zehn Jahren das erste Mal Verantwortung. Teil der Show sein zu dürfen, ist das, was nach wie vor viele junge Menschen dazu bewegt, sich den Messdienern ihrer Gemeinde anzuschließen. Der Altarraum ist wie eine Bühne. Die Gemeinde ist das Publikum. Jeder Schritt wird eingeübt, wie bei einer Tanzchoreographie. Es soll ein schönes, symmetrisches Bild ergeben und es soll feierlich wirken.

Walter Hömberg veröffentlichte 2015 eine Rezension zu Markus Schächters „Die Messdiener. Von den Altarstufen zur Showbühne. Erfahrungen der Showstars von Günther Jauch bis Matthias Opdenhövel“. Tatsächlich waren viele Fernsehmoderatoren für Unterhaltungssendungen in ihrer Jugend als Ministranten tätig. „Markus Schächter, von 2002 bis 2012 Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens, geht davon aus, dass die Erfahrungen als Ministrant‚ ein Feeling für Inszenierung, Dramaturgie und theatralischen Effekt‘ (S. 21) vermitteln“3. Nüchtern betrachtet, muss man sich jedoch eingestehen, dass nicht überall Kausalzusammenhänge vermutet werden sollten, wo interessante Korrelationen zu finden sind.

Inklusion

In der Kirche ist jeder willkommen! Das moderne Christentum bedeutet gelebte Inklusion. Unter je nach Gemeinde meist roten oder schwarzen Talaren und weißen Rochetts, dem liturgischen Gewand der Messdiener, sind alle gleichwertig. Kleidermarken spielen keine Rolle. Auch bestimmte Fähigkeiten werden nicht vorausgesetzt. Niemand muss sportlich oder musikalisch sein. Anders als im Sportverein oder in der Musikschule, braucht es zum Dienst am Altar nichts weiter als die Bereitschaft, sich auf die Liturgie und das Wort des Evangeliums einzulassen.

Integration

In der Mitgliedschaft einer Gemeinde finden viele junge wie alte Menschen ihren Anker. Als Weltreligion ist das Christentum über den gesamten Globus verstreut. Jede Kirche hat ihren eigenen Charme und trotzdem gibt es etwas, das alle verbindet, sogar über Ländergrenzen, Sprachbarrieren und Konfessionen hinweg. Wer umzieht, auswandert oder sogar fliehen muss, der findet in der Kirche oft etwas Vertrautes wieder, so wie aktuell zahlreiche nach Deutschland kommende oft christlich-orthodoxe Ukrainer. In einer Zeit, in der so Vieles hoffnungslos scheint und eine Krise die nächste jagt, kann Kirche als Gemeinschaft Halt geben und trösten.

Kirchensteuer

Aber nicht nur die Kirche selbst ist „Kirche“. Kindergärten, Schulen, Seniorenheime, Krankenhäuser, Beratungsstellen – ohne die Kirche als Träger vieler dieser Einrichtungen würde ein großes Loch in Deutschlands sozialem Netz klaffen. Kritiker der Kirchensteuer argumentieren oft, dass diese weniger für caritative Zwecke, sondern vielmehr zur Finanzierung des Kirchenpersonals verwendet wird4. Was dabei oft vergessen wird: Auch dieses „Personal“ übt einen seelsorgerischen Beruf aus und verdient (auch monetäre) Anerkennung. Die Unternehmungen der Messdienergemeinschaft werden finanziell meist vollständig von der Kirche gedeckt. Das ermöglicht auch Kindern finanziell schwacher Familien Teilhabe und zwar ohne dadurch aufzufallen. Über die Verteilung der Abgabe lässt sich streiten.

Missbrauchsfälle

Genauso wie über die Reaktion der Kirche auf aufgeklärte Missbrauchsfälle. Auch Messdiener wie Georg Menne5 waren in den 1970er Jahren unter den Opfern. Eine Gewalt, ausgehend von denjenigen, die eigentlich Schutz gewähren sollten. Es steht außer Frage, dass allen Opfern Gerechtigkeit zusteht und dass alles dafür getan werden muss, um keine weiteren Fälle zuzulassen. Missbrauch, Gewalt in jeglicher Form, zumal gegen Kinder, ist durch keine Person, an keinem Ort, in keinem Kontext zu billigen. Der Großteil der sexuellen Gewalt gegen Kinder findet im familiären Rahmen statt. Auch in Sportvereinen und besonders in sozialen Medien gibt es schwarze Schafe. Doch weil gerade die Kirche einen moralischen Anspruch an sich selbst erhebt, fällt sie angesichts der Täter in den eigenen Reihen von einem besonders hohen Ross6.

Fazit

Eine alarmierende Mehrheit der befragten Messdiener ist nicht bereit, mit anderen Jugendlichen über religiöse Fragen zu diskutieren1, vielleicht aus Scham wegen des Rufs einer veralteten Kirche, vielleicht aus Furcht vor dem Vorwurf der Kontaktschuld. Doch manche Fragen dürfen nicht unbeantwortet bleiben, „Fragen nach dem (Macht-)Missbrauch in der katholischen Kirche sowie nach Strukturen, die vor allem die Rolle der Frau, den Umgang mit Homosexualität und den Pflichtzölibat betreffen. […] Zugleich sind die Theodizee-Problematik und die Frage nach der Vereinbarkeit von Glaube und Wissenschaft Themen“1, die einer Diskussion bedürfen.

Messdiener sein: das bedeutet, für einander da zu sein, einander respektvoll zu begegnen und mit Kopf, Herz und Hand verstehen, verkündigen und verinnerlichen.

Quellen

1: Sajak, C. P., & Pröbsting, K. S. (2020). „Ich bin durch den Dienst Teil meiner Gemeinde“: Ergebnisse einer explorativen Studie zu Selbstverständnis, Motivation, und Religiosität von Ministrant*innen heute. Zeitschrift für Pastoraltheologie (ZPTh), 40(2), Article 2. https://www.uni-muenster.de/Ejournals/index.php/zpth/article/view/3193

2: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.). (2023). Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2022/23. Arbeitshilfen 339. https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/Zahlen%20und%20Fakten/Kirchliche%20Statistik/Allgemein_-_Zahlen_und_Fakten/AH-339_DBK_BRO_ZuF_2022-2023_WEB.pdf

3: Hömberg, W. (2015). Markus Schächter: Die Messdiener. Von den Altarstufen zur Showbühne. Erfahrungen der Showstars von Günther Jauch bis Matthias Opdenhövel. Communicatio Socialis (ComSoc ), 48(2), 228–230. https://doi.org/10.5771/0010-3497-2015-2-228

4: Tyroller, E. (2018, Januar 17). Was passiert mit der Kirchensteuer? BR24. https://www.br.de/nachrichten/bayern/kirchensteuer,QgyVZnt

5: Haselrieder, M. (2023, Juni 13). 300.000 Euro für Missbrauchsopfer vom Erzbistum Köln. ZDF. https://www.zdf.de/uri/b185bf31-57af-483e-b352-2874a9b4119c

6: Hunglinger, S. (2023, Mai 28). Psychologe über Missbrauch in der Kirche: „Wir können das nicht aussitzen“. Die Tageszeitung: taz. https://taz.de/!5934472/

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