Betretet niemals ein Hexenhaus!

„Süßes sonst gibt’s Saures!“, riefen wir an der Tür. Verschleiert unter Hexenhut und Teufelshaar marschierten wir mit unserem Wachhund, einem pechschwarzen Dackel, von Haus zu Haus. Wir verlangten, was die meisten Kinder in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November verlangten. Jede Menge Süßigkeiten. Von Bonbons bis Schokolade war alles gern gesehen. Mit vollen Beuteln kehrten wir spät abends nach Hause zurück und teilten unsere Beute.

Jedes Jahr streiften meine beste Freundin und ich an Halloween durch die Nachbarschaft. Schon Wochen vorher wurde das Event geplant. Es gab nämlich viele Vorbereitungen zu treffen. In welche Grußelgestalten sollten wir uns verwandeln? Welche Häuser würden wir besuchen? Um welche Uhrzeit zogen wir los?  Die Vorfreude war riesig. Am 31. Oktober ging ich immer schon vormittags zu meiner Freundin. Bepackt mit Kostüm und Schlafsachen. Denn nach der Arbeit gab es eine Pyjamaparty. Als ich ankam, machten wir uns gleich ans Werk.

Erst ging es in die Maske. Schwarzer Lidschatten und Eyeliner wurden unsere besten Freunde. Selbstverständlich mussten auch unsere Haare perfekt gestylt sein oder eher das Gegenteil davon, also zerzaust wie Löwenmähen. Wir wollten ja furchteinflößend aussehen. Nachdem wir in unsere Kostüme geschlüpft waren, mussten unbedingt Fotos gemacht werden. Damals noch mit einer Digitalkamera, Handys besaßen wir noch keine. Mit Hund und ausgeschnitzten Kürbis schossen wir tolle Erinnerungsbilder. Als wir loszogen, war die Dunkelheit schon eingekehrt. Wir begannen im Nachbarhaus. Mit einem Lächeln im Gesicht reichte uns die Dame einen Korb, aus dem wir etwas entnehmen durften. Das erste Haus war schon mal ein Gewinn. Nun marschierten wir von Haus zu Haus. Von griesgrämigen Damen und Herren bekamen wir nur einen Apfel. Dafür beschenkte uns manch ältere Dame mit 1 oder 2 Euro Stücken. Eine reiche Ausbeute.

Am Ende der Straße erreichten wir ein alleinstehendes Haus. Umrandet von Bäumen und zugewachsen mit Efeu. „Wohnt hier jemand?“, fragten wir uns. Die Fassade des Hauses deutete nicht darauf hin, dennoch brannte ein Licht im Fenster. Wir beschlossen unser Glück zu versuchen und läuteten. Eine hochgewachsene, schlanke Frau öffnete uns. Ihr dunkles Haar war kurzgeschnitten, ihre lange Nase gekrümmt und sie sah uns mit ihren dunklen Augen fragend an. Diesen Besuch hatte sie nicht erwartet. Wir legten sofort los: „Süßes, sonst gibt’s Saures!“. Die Frau musterte uns bis aufs kleinste Detail. Unsere komischen Kostüme, das dunkle Make-Up und die zerzausten Haare. Es war klar ersichtlich, dass zwei Kinder uns so herausgeputzt hatten. Vielleicht erschrak sie auch der schwarze Dackel, den wir mit im Schlepptau hatten. Obwohl letzteres fast unmöglich war; Dackel haben doch so ein süßes Gesicht. Nach einer kurzen Pause lächelte die Frau und bat uns einzutreten. Eine Regel bekamen wir auferlegt, wenn wir alleine an Halloween Süßigkeiten sammeln wollten: „Geht nicht in die Häuser von fremdem Menschen rein!“. Meine Freundin und ich sahen uns an. Wofür sind Regeln da? Selbstverständlich um sie zu brechen. Die Frau vor uns sah zwar fast aus wie eine Hexe, mochte doch wohl Keine sein, oder? Mit allem Mut, den wir aufbringen konnten, traten wir über die Schwelle und schlossen die Haustür. Die Wände im Flur waren mit einer dunklen Wandfarbe geschmückt und von der Decke hingen zahlreiche Pflanzenkübel. Die Frau ging in die hell beleuchtete Küche am Ende des Flures. Wir warteten, die Haustür direkt hinter uns. Sollten wir ein Hexenhaus betreten haben, bestand jederzeit die Möglichkeit zur Flucht. Es rumpelte und krachte in der Küche. Unser Wachhund fing leise an zu wimmern und auch uns wurde etwas unwohl. Nach einer kurzen Weile kam die Frau wieder und legte uns zwei große Tafeln Schokolade in die Hände. Hastig bedankten wir uns und verließen das Haus. Mit mulmigem Gefühl kehrten wir nach Hause zurück. Wir wurden zwar beschenkt, allerdings von einer Hexe. Da waren wir uns sicher. Im nächsten Jahr würden wir einen riesen Bogen um das Hexenhaus machen.