Korrektur

„Du studierst doch Deutsch?! Kannst du mal meinen Text korrekturlesen?“ – Jeder, der Deutsch studiert, hat das bestimmt schon mal gehört. Häufig läuft das ähnlich wie bei Musikern: „Ich hab ne Party, kannst du da spielen?“. Kaffee und ewige Dankbarkeit sind einem sicher. Wenn ich den Leuten, die mich als Korrektor anfragen und damit tatsächlich eine wilde Mischung aus Korrektor, Lektor und Ghostwriter meinen, dann erkläre, dass wir uns tatsächlich auf einen Kaffee treffen sollten, weil ich sie gerne am Korrekturprozess beteiligen würde, gucken sie meistens verständnislos. Ich bin weder Rechtschreib- noch Grammatikpapst. Ich erkenne Fehler, die bei mir selber schon einmal korrigiert wurden, ich kann den Duden aufschlagen oder online einzelne Wörter nachschlagen und Flüchtigkeits- und Tippfehler beseitigen. Bei mehrfach überarbeiteten Texten kommt es häufig dazu, dass Syntaxstrukturen einer älteren Version übrigbleiben oder dass am Ende eines mehrzeiligen Schachtelsatzes das finite Verb fehlt, das sich zwar jeder Leser denken kann, das aber trotzdem auch dort stehen sollte. Warum bestehe ich aber darauf, dass der Verfasser des Textes ebenso für mich greifbar sein muss wie der Duden während ich den Text mit Anmerkungen verziere?

Das zu schreiben, was man sagen wollte, ist häufig schwerer als gedacht. Wir alle wissen, dass Menschen aus ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Perspektiven heraus das, was sie lesen, in sich unterscheidende Rahmungen einsortieren. Diese Rahmungen überschneiden sich manchmal, besonders, wenn es sich um professionelle Kontexte handelt, wenn Autor und Leser aus dem gleichen Fachbereich kommen. Ist dies aber nicht der Fall, textet der Autor in seiner eigenen Blase oder hat keinen eng begrenzten Adressatenkreis, muss angestrebt werden, dass der Text nach Möglichkeit ohne Spezialwissen verstehbar ist. Dieser Umstand wirkt sich meistens auf Kausalverkettungen aus. Da leitet dann jemand ein Fazit seines Gedankenganges mit einem „daraus folgt“ ein oder stellt ein „deshalb“ in den Raum, für das ich keinerlei Veranlassung finden kann. In der Welt, die sich der Autor beim Nachsinnen über sein Thema aufgebaut hat, mag der folgende Satz sich aus der Gesamtheit des vorher Gedachten ergeben; wenn ich jedoch den Text als abgeschlossenes Werk betrachte, müssen alle Argumentationselemente tatsächlich dort vorhanden sein, zumindest als Verweis. Logik erscheint uns oft als fundamentale Wahrheit der Welt, unbestechlich und unabänderbar. Sie wird durch Abhängigkeiten aber sehr schnell sehr unübersichtlich. Dann muss immer wieder geprüft werden, ob das Bezugssystem, der Maßstab, der gerade angelegt wird, noch stimmt.

Ich versuche deshalb immer festzustellen: Was wollte der Autor sagen? Warum hat er diesen Satz zu Papier gebracht? Als Korrektor ersetze ich nicht den Autor. Ich versuche lediglich, ihm dabei zu helfen, den Text zu schreiben, den er schreiben wollte, seine Gedanken zutage zu fördern. Ich kann nicht einfach einen Satz ganz neu schreiben und ich kann auch nicht eigenmächtig über mehr, als über offensichtliche Tippfehler entscheiden. Ich frage stets: Was sollte dieser Satz? Was willst du damit ausrichten? Und dann erarbeite ich mit dem Autor gemeinsam eine sinnvolle neue Version, wenn uns das nötig erscheint. Dieser Prozess ist sehr anstrengend und häufig hatten sich die Anfrager weniger Arbeit davon versprochen, mir ihre Texte zukommen zu lassen. Manchmal passiert dann auch mit den Texten nicht exakt das, was sich der Autor versprochen hatte. Aber sobald der Text freigegeben wurde, ist ja auch erst der Vorgang des Geschrieben-Werdens beendet. Für den Tod des Autors kann ich nichts. Das ist Roland Barthes Verdienst. Ich existiere vorher. Ich darf noch fragen: Was denkst du dabei? Ich bin kein Zweiter, niemand der das ändert, was geschrieben wird, ich erweitere und spiegele das Denken des Schreibers, lenke es auf den Text.

Mich hätte dieser Text gut gebrauchen können, leider bin ich nicht später dazugekommen, leider ist der Kaffee schon leer. Das Bild des Korrektorats wäre zu überdenken.
Ich versuche, meine Rolle mit dem anderen Menschen zu klären, wenn ich Anfragen „fürs Korrekturlesen“ bekomme. Über diese Debatte kann ich mir viele Anfragen vom Hals halten. Niemand mag Klugscheißer und: Wer kein Geld nimmt, der hat wohl auch nicht recht.

Bildquelle: Pixabay / CCO 1.0 / Quinn Kampschroer (quinntheislander)