Die dümmste Kirche der Welt

Die Zahl der Austritte aus der evangelischen Kirche in Deutschland liegt bei einem Rekordhoch. 2019 verließen sie 270.000 Menschen, das sind 22% mehr als im Jahr zuvor.[1] Bei der katholischen Kirche sieht es mit 272.771 Austritten nicht viel besser aus. Aber die Reaktionen der Kirchen sind anders. Während Rom an den Überlieferungen festhält, versucht die Kirche Luthers verzweifelt, irgendwie „cool“ zu wirken, und sorgt damit immer wieder für Lacher: In jeder evangelischen Kirche – dort, wo man es also am meisten braucht – gibt es jetzt freies W-LAN, allen Ernstes unter dem Namen „godspot“.[2] Falls die Predigt langweilig werden sollte, kann man also eben zwischendurch eine Folge Breaking Bad schauen.

Auch im evangelischen Liederbuch finden sich amüsante, natürlich längst überfällige Änderungen, für welche Gemeinden in ganz Deutschland schon seit Jahrzehnten auf die Barrikaden gestiegen sind – oder auch nicht. Etwa bei Der Mond ist aufgegangen von Matthias Claudius. Ist ja auch nie richtig zeitgemäß gewesen, der Junge, weil er in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelebt hat. Da muss seine Lyrik natürlich von geistigen Überfliegern aktualisiert werden: „und unseren kranken Nachbarn auch“ ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. „God“ sei Dank wurde der Nachbar endlich in „Menschen“ geändert. Jetzt ist alles ok.

Die Hamburger Gruppe „Lesben und Kirche“ hat gefordert, dass man statt Lobet den Herrn nun „Lobet die Ew’ge“ singe. Prompt verschwindet der böse „Herr“ aus dem Liederbuch. Der Reim passt nun nicht mehr, genauso wenig wie bei „O treue Hüt’rin“, die den „treue[n] Hüter“ ersetzt. Und in den 265.000 Exemplaren der neuen Auflage wird gegen die schändliche männliche Dominanz der letzten 2.000 Jahre auch eine „Allerhöchste“ eingeführt. Da wird das Luthers Grundsatz „Das Wort sie sollen lassen stahn“,[3] mal eben unter den Tisch fallen gelassen. Aber Luther wäre heute ja schon über 500 Jahre alt und somit auch nicht mehr so richtig aktuell.

Aber gut. Das ist der Fortschritt! Das bringt die Menschheit weiter. Endlich macht mal jemand was – völlig uneigennützig, bei dem es nicht nur um seine eigene politische Selbstgeltung, sondern auch um Andere geht! Der Schülerverband Katholische Studierende Jugend (KSJ) kann diesen Kotau vor dem Zeitgeist natürlich nicht auf sich sitzen lassen und zieht nach, indem sie uns pünktlich zur Weihnachtszeit einen Gott mit Genderstern schenkt. Sie wolle „weg von dem strafenden, alten, weißen Mann mit Bart, hin zu einer Gottes*vielfalt“.[4] Gott ist überhaupt kein strafender, alter, weißer Mann mit Bart – da haben unsere Kleinen im Reli-Unterricht nicht gut genug aufgepasst. Die Maler der Renaissance haben Gott oft als weisen Alten dargestellt – wahrscheinlich aus Gründen des Respekts. Aber dass Gott ein geschlechtsloses Wesen ist, wissen wir nicht erst, seit unsere kleinen Nobelpreisträger willkürlich einen Stern neben seinen Namen gesetzt haben. Unsere Schüler plappern jedenfalls munter und unreflektiert die Behauptungen des Gender-Dogmas nach, welches Genitalien als das entscheidende Identitätskriterium aller Menschen ansieht. Cool.

Im weihnachtlichen Gemeindebrief des Berliner Stadtteils Alt-Pankow durfte Jesus auch nicht mehr männlich sein. Es gibt jetzt das „Jesus*kind“ sowie einen „Jesus* für alle“. Die Pfarrerin der Gemeinde, die sich offenbar für eine höhere Autorität hält als die Bibel selbst, schreibt: „Vermutlich hatte er männliche Geschlechtsmerkmale und wurde zu einem Mann erzogen.“ Aber er habe seine Männlichkeit nicht öffentlich reflektiert.[5] Womöglich tat er das nicht, weil seine Männlichkeit himmelsschreiend offensichtlich war, und Jesus Besseres zu tun hatte, als jeden Tag über seine Geschlechtsorgane nachzudenken.

Die Menschen, die in die Kirche kommen, suchen Halt in den Zeiten des postmodernen Hyperrelativismus, in denen Gut und Böse, Richtig und Falsch nurmehr als Meinungs- und Interpretationsfrage ausgelegt werden dürfen. Die Kirche sollte auch weiterhin den Menschen, die sich dort versammeln, Halt bieten: Orientierung auf moralischer und ethischer Ebene, wie es ihr im Laufe der vergangenen zwei Jahrtausende gelungen ist. Keine politische oder wirtschaftliche Einrichtung kann eine vergleichbare Leistung vorweisen.

Natürlich gibt es in der Kirche Korruption, wie in jeder menschlichen Hierarchie. Man denke nur an das Treiben der Barockpäpste und der zahlreichen Nachkommen, die sie in die Welt gesetzt haben. Zum Glück ist wenigstens eine Reihe von diesen Kardinäle geworden. Und der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ist der Kataklysmus der neueren Zeit gewesen, der ihr als moralische Autorität gewaltigen Schaden zugefügt hat.

Dennoch ist der Glauben von der Institution der Kirche zu unterscheiden. Der persönliche Glaube jedes Einzelnen ist eine private Angelegenheit. Die innere Erbauung ist der hauptsächliche Grund, warum Menschen heute noch zur Messe gehen. Dort finden sie die Sicherheit, die schon ihre Väter und Urgroßväter gefunden haben. Hier ist Kontinuität von fundamentaler Bedeutung. Wenn auch in der Welt da draußen Vieles einem raschen Wandel unterworfen ist – der Glaube ist beständig.

Darum ist es fatal, wenn eine Kirche selbst auf einmal anfängt, diesen Glauben in Frage zu stellen. Nicht nur, dass sie sich dabei immer wieder lächerlich macht, und man sie bald als Institution nicht mehr ernst nehmen kann. Eine christliche Kirche, welche zentrale Aspekte der christlichen Religion aufgibt, weil bestimmte Journalisten und Schüler das so haben wollen, beweist vor aller Augen, dass sie kein Rückgrat hat. Das Vertrauen, dass die Gläubigen ihrer Kirche entgegenbringen, wird schwer enttäuscht. Und wer nicht in der Lage ist, bei Widerstand gerade zu stehen, sondern gleich umfällt, an den wendet man sich nicht, wenn man Schutz sucht.

Warum passiert das alles überhaupt gerade jetzt? Ist es wirklich nur vorauseilender Gehorsam gegen den Zeitgeist? In einem Interview mit Margot Käßmann, der ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD, kann sich Jan Fleischhauer die Bemerkung nicht verkneifen: „Wenn ich heute auf einen Kirchentag gehe, habe ich den Eindruck, dass ich bei einem Parteitag der Grünen bin. Die Übereinstimmung geht bis ins Personelle. Die jetzige Vorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung, Ellen Ueberschär, war zuvor Generalsekretärin des Kirchentrages, die grüne Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt war lange Präses der Synode. […] Wenn Sie grünes Programm und Kirchentagsprogramm übereinandergelegt haben, passte dazwischen kein Blatt Papier.“ Frau Käßmann geht hierauf nicht ein, sondern spricht stattdessen über frühmorgendliche Bibelstunden.[6]

Naja – jetzt, wo unsere Genderillas Gott und Jesus durchgegendert haben, hört wenigstens die Welle der Kirchenaustritte schlagartig auf. Oder? Ich habe meine Vermutung dazu, die ich an dieser Stelle aber aus Gründen des Taktes verschweigen werde. Sollten Sie ein gläubiger Protestant sein, habe ich jedenfalls einen Rat: Werden Sie katholisch.


[1] ‚Kirchenaustritte auf historischem Höchststand‘ (26.6.2020). https://www.tagesschau.de/inland/anstieg-kirchenaustritte-101.html (18.1.2021).

[2] godspot. Das freie WLAN der Evangelischen Kirche. https://godspot.de/ (29.11.2020).

[3] Heike Schmoll, ‚Ändergender gegen Gott‘ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.5.2017). https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/evangelischer-kirchentag-genderwahn-verunstaltet-liederbuch-15036612.html (29.11.2020).

[4] ‚Politiker: „Gott*“ mit Genderstern ist peinliches Gaga‘ (14.12.2020). https://www.katholisch.de/artikel/27971-politiker-gott-mit-genderstern-ist-peinliches-gaga (18.1.2021).

[5] Ebd.

[6] Jan Fleischhauer, How Dare you? Vom Vorteil, eine eigene Meinung zu haben, wenn alle dasselbe denken (München: Siedler, 2020), S. 188.

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