Denkanstöße
Die bekam ich neulich, als ich die Ausstellung Touchdown. Die Geschichte des Down-Syndroms in der Bundeskunsthalle in Bonn besuchte. Ich hatte mich bisher immer für einen Menschen gehalten, für den der Begriff Inklusion eigentlich kein Thema mehr ist, sondern ein selbstverständlicher Teil des Alltags. Und doch machte mir die Ausstellung meine vielen Vorurteile und festgefahrenen Verhaltensweisen im Umgang mit Menschen mit Lernschwierigkeiten bewusst.
Menschen mit Lernschwierigkeiten, das ist die vom Internet-Portal Leidmedien empfohlene Bezeichnung für „geistig behinderte“ Menschen. Und bei dieser Benennung fangen meine Denkanstöße schon an. Denn viele Menschen mit Down-Syndrom oder anderen „Behinderungen“ möchten nicht als „geistig behindert“ beschrieben werden (so, wie ich selber bisher gesagt habe). Auch die Phrase „unter dem Down-Syndrom zu leiden“, ist schlichtweg falsch. „Ich habe das Down-Syndrom, aber ich stehe dazu und ich bin kein Alien […]“, schreibt Svenja Giesler dazu. So ist auch die weit verbreitete Annahme falsch, das Down-Syndrom sei eine Krankheit. Trisomie 21, so der medizinische Fachbegriff, ist eine genetische Besonderheit. Hat eine der beiden Keimzellen während der Befruchtung ein Chromosom zu viel, nämlich das Chromosom 21, so befruchtet sich die Eizelle mit 47, statt 46 Chromosomen. Die gebräuchlichere Bezeichnung „Down-Syndrom“ bezieht sich auf John Langdon-Down. Der 1828 in England geborene Arzt war der erste, der diese Menschen erforschte, ohne in ihrer Besonderheit eine Krankheit zu sehen.
„Krank sind Menschen mit Down-Syndrom nur, wenn sie Windpocken haben. Oder einen Schnupfen“, stellt der Ausstellungskatalog zu Touchdown richtig. Das falsche oder fehlende Wissen zum Down-Syndrom ist eine Folge der jahrhundertelangen Ausgrenzung. Sie werden nicht gleich behandelt, nicht anerkannt oder gemieden – auch wenn das unbewusst oder unbeabsichtigt geschieht. Viele Menschen mit Down-Syndrom erleben beispielsweise, dass sie ungefragt geduzt werden, weil man ihnen ihr Alter nicht ansieht oder der Gesprächspartner ihnen nicht auf gleicher Augenhöhe begegnet. Wenn die 35-jährige Julia Bertmann also beim Einkaufen gefragt wird, „Möchtest du eine Scheibe Wurst haben?“, dann ist das nicht nett, sondern einfach respektlos. Solche unüberlegten Sätze inkludieren den Gedanken, Personen mit Down-Syndrom seien mental unterlegen. Zwar ist es richtig, dass Menschen mit Down-Syndrom für viele Tätigkeiten oder zum Erlernen bestimmter Dinge länger brauchen, wodurch die Förderung entsprechend angepasst werden muss, dennoch haben sie grundsätzlich das gleiche Potential wie diejenigen ohne Down-Syndrom auch. Und auch die können ja bei Weitem nicht alle eine Fremdsprache sprechen, das Abitur machen oder ein Instrument spielen. Übrigens: Auch ein Universitätsabschluss ist für Menschen mit Down-Syndrom durchaus erreichbar. Das bekannteste Beispiel ist der Spanier Pablo Pineda, der in nur vier Jahren sein Lehramtsstudium absolvierte – zum Vergleich schafft nicht einmal die Hälfte der deutschen Studenten ihr Studium in der Regelstudienzeit.
Auch unverhältnismäßig oft angeschaut oder beobachtet zu werden, ist Alltag für Menschen mit dem Down-Syndrom. Angela Fritzen schreibt dazu:
„Wenn man mich anstarrt, sieht man nicht, was in mir ist.
[…]
Wenn man mich anstarrt, sieht man nicht, dass ich kochen kann.
Wenn man mich anstarrt, sieht man nicht, dass ich Englisch lerne.
[…]
Wenn man mich anstarrt, sieht man nicht, dass ich eine Ausbildung schon längst hinter mit habe.
Wenn man mich anstarrt, sieht man nicht, dass ich reiten kann.“
Ebenso die Bedeutung von Themen wie Beziehung, Liebe und Sexualität werden Menschen mit Down-Syndrom oft abgesprochen und die Relevanz für ihr Leben nicht ernst genommen. Dabei haben sie, wie jeder andere auch, das ganz normale Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung, nach einer „klassischen“ Lebensweise. Oftmals sind sie den meisten Menschen dabei sogar noch einen Schritt voraus, denn stereotype Rollenmuster spielen für sie kaum eine Rolle, sowohl im Alltag als auch in einer Partnerschaft.
Viele Dinge, die ich in der Ausstellung gesehen und gelesen habe, waren mir zuvor nicht bewusst – obwohl sie eigentlich selbstverständlich sein sollten. Unter anderem auch, dass Ausstellungen so konzipiert werden, dass jeder sie verstehen kann, nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten, sondern auch Personen, die nicht ausreichend gut Deutsch sprechen oder sich in bestimmten Themenbereichen nicht auskennen. Dass alle Wandtexte in „Einfacher Sprache“ abgedruckt waren, half mir, die keine Ahnung von Biologie hat, die medizinischen Zusammenhänge einer Trisomie 21 zu verstehen.
Mir hat dieser kleine Denkanstoß geholfen, meine Mitmenschen, ob mit oder ohne Lernschwierigkeit, anders wahrzunehmen, sie nicht auf vermeintliche „Unterschiede“ zu reduzieren und meinen Umgang mit ihnen zu überdenken. Jeden gleich zu behandeln, sollte der Grundpfeiler unseres sozialen Miteinanders sein. Und wenn man manchmal nicht weiß, wie man das machen soll, dann ist es am einfachsten, die betreffende Person einfach zu fragen.
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