Momo – Nur ein Kinderbuch?

Als ich neulich im Bücherregal meines Freundes stöberte, stieß ich auf einen Schatz meiner Kindheit: „Momo“ von Michael Ende. Mein Freund hat es in der Schule gelesen (das lässt zumindest das kritzelige „Klasse 5a“ auf der Unterseite des Buches vermuten). Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das Buch zum ersten Mal in der Hand hielt, in der Orientierungsstufe habe ich es jedoch in einer Buchvorstellung als mein Lieblingsbuch präsentiert.

Als ich also dieses Buch in der Hand hielt, kam ich nicht herum, es noch einmal zu lesen. Tatsächlich hatte ich einiges vergessen, weshalb es mir generell große Freude macht, Bücher nach Jahren noch einmal zu lesen.

1973 erschien das Werk von Michael Ende mit dem langen Titel „Momo. Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“. Nach „die unendliche Geschichte“, die wohl jedem ein Begriff sein dürfte, ist Momo das erfolgreichste Werk Endes und wurde 1974 mit dem deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet.

Momo ist ein seltsames Mädchen. Eines Tages ist sie einfach da, erklärt die Ruinen eines Amphitheaters als ihr Zuhause, trägt viel zu große Kleidung und hat ein noch seltsameres Talent: sie kann zuhören. Und zwar so, wie es sonst niemand kann. Mit den Menschen in der Umgebung freundet sie sich schnell an, ihre engsten Vertrauten werden Beppo Straßenkehrer und Gigi Fremdenführer. Die sorglose Welt wird jedoch nach und nach von geheimnisvollen grauen Männern zerstört. Ihr Ziel ist es, die Zeit von allen Menschen zu sammeln um damit die Macht über die gesamte Welt an sich zu reißen. Momo erweist sich jedoch als großer Feind der grauen Männer und sie ist auch die einzige, die den Menschen helfen kann. Sie lernt den Herrn der Zeit mit dem eindeutigen Namen Meister Secundus Minutius Hora und seine Schildkröte Kassiopeia kennen. Mit viel Mut und Kraft muss sich Momo den grauen Männern stellen um so die Zeit vor ihnen zu schützen.

Die hier grob beschriebene Geschichte klingt auf den ersten Blick nach einer klassischen Geschichte für Kinder. Die Hauptfigur wird heroisch dargestellt, ist selbst ein Kind und hat liebenswerte Weggefährten. Die bildliche und verständliche Sprache machen das Buch leicht lesbar. Was mich jedoch irritiert hat, war der Inhalt. Den Menschen wird die Zeit geraubt, sie werden dadurch mürrisch, gestresst und existieren nur noch für ihre Arbeit. Hobbies, soziale Kontakte, sogar die eigenen Kinder und natürliche Bedürfnisse wie essen und schlafen rücken in den Hintergrund oder werden komplett aus dem Leben gestrichen. Die Welt wird immer kälter und grauer. Die neuen Häuser in der Stadt sind praktisch aber hässlich und unpersönlich. Irgendwie begegnet einem das doch auch in der realen Welt. In unserer heutigen Welt, wo viele Menschen keine Zeit mehr haben, um die Blumenwiese zu genießen, um mit den Patienten zu plaudern oder in Ruhe zu Mittag zu essen. Viele Bereiche in unserem Leben sind auf Profit, auf Erfolge und natürlich auf Geld aus. Dabei merken wir nicht, wie wir innerlich eingehen und vereinsamen. Natürlich ist das jetzt etwas überspitzt dargestellt, aber beim Lesen des Buches erkannte ich doch viele Parallelen. In dem Buch geht es nicht nur um eine Heldin, die mithilfe einer Schildkröte und eines eigenartigen Mannes die Welt rettet, sondern um viel Tieferes wie den Sinn des Lebens und die Zeit, die man auf dieser Welt hat. Faszinierend ist, dass Michael Ende das Buch bereits in den 70ern geschrieben hat und es heute noch den Zahn der Zeit trifft. Ich finde, dass das Buch nicht nur im Regal der Kinder- und Jugendbuchliteratur stehen sollte, sondern auch durchaus von Erwachsenen gelesen werden kann. Gerade diesen kleinen Hinweise, diese Seitenhiebe auf die Gesellschaft, kann man als Kind noch gar nicht richtig sehen und deuten. Aus ganz anderen Gründen als damals hat mich das Buch wieder in seinen Bann gezogen und zum Nachdenken angeregt. Denn wir haben keine Momo, die uns hilft und uns vor Augen führt, worauf es im Leben ankommt. Das müssen wir selbst herausfinden. Und ich werde erstmal als nächstes herausfinden, welche Schätze sich noch im Bücherregal meines Freundes verstecken

Foto: privat.