Lesen lernen

In unseren Beiträgen hier auf kultürlich.de schreiben wir immer wieder gerne über Bücher. Wir stellen sie vor, weil sie uns gut gefallen, weil sie interessante Fragen aufwerfen oder weil wir der Meinung sind, dass sie gelesen werden sollten.

Für mich sind die Buchstaben der Bücher, die Welten eröffnen können, ein Schatz und wenn ich hier darüber schreibe, setze ich voraus, dass meine Gedanken durch die Schrift anderen Menschen vermittelbar sind.Die Deutsche UNESCO-Kommission wies kürzlich anlässlich des Weltalphabetisierungstages darauf hin, dass 12 % der Berufstätigen in Deutschland Lese- und Schreibfähigkeiten fehlen, weltweit gehe man von 750 Millionen Menschen aus
(vgl. deutschlandfunkkultur.de).
Während wir bei anderen Ländern oft standardmäßig aus einer selbstgefälligen Überlegenheitsperspektive annehmen, dass es dort eben am Zugang zur Bildung mangelt, verstehen wir das Problem im Hinblick auf Deutschland nicht, denken an Schulabbrecher und -verweigerer. Dass man trotz jahrelangen Schulbesuchs nicht oder nicht flüssig lesen kann, ist für viele Menschen, für die Lesen eine Selbstverständlichkeit ist, eben unverständlich. Sie nutzen ihre Lesekompetenz schließlich jeden Tag beiläufig, als Vorarbeit aller möglichen Tätigkeiten, die ohne die Informationsaufnahme über das Lesen gar nicht möglich wären.

Dass die hohe Anzahl an funktionalen Analphabeten unter unseren Mitmenschen häufig unsichtbar bleibt, liegt zu großen Teilen an den mit diesem Thema verbundenen Vorurteilen, der Stigmatisierung, vor der sich die Menschen fürchten. Viele entwickeln bereits in der Schulzeit allerhand Strategien, um nicht negativ aufzufallen und schaffen es tatsächlich, “durchs Raster zu fallen”, wie es unter Lehrern gerne ausgedrückt wird.

Deshalb macht man Lehramtsstudierende jetzt mit diversen Instrumenten zur Diagnose der sprachlichen Kompetenz von Schülern vertraut: Screening-Verfahren wie etwa den sogenannten C-Test beispielsweise. Solche Instrumente werden dann im Seminar kritisch beäugt, Vor- und Nachteile diskutiert; es wird überlegt, welche Kompetenzen, Fertigkeiten und Fähigkeiten ein Test messen soll und welche er tatsächlich misst, für welche Schüler er geeignet ist. Die Wichtigkeit der Lesekompetenz für den Schulerfolg wird anhand der von vielen Schülern verhassten Textaufgaben aus dem Mathematikunterricht vor Augen geführt. Hier wird Lesen-Können einfach vorausgesetzt. Schließlich diskutieren die Studierenden die Güte verschiedener Diagnoseinstrumente anhand des Ökonomie-Faktors: Kann dieser ganze diagnostische Aufwand wirklich in der Schule betrieben werden? Was indiziert den Einsatz eines Testverfahrens? Kann man der Beobachtungsgabe der Lehrkräfte vertrauen?
Am Ende des Seminars haben die Studierenden einen Koffer voller Hilfsmittel in der Hand, die ihnen helfen sollen, das “Raster” zu verfeinern und Sicherungsnetze einzuziehen für den Fall der Fälle. Aber sie haben bereits das dumpfe Gefühl, dass sie diesen Koffer zu Hause in eine Niesche ihrer Wohnung neben die anderen Koffer mit Plänen und Materialien zu individueller Förderung stellen und über den Alltag zustauben lassen werden.

Es wirkt vielleicht etwas komisch, ausgerechnet einen Text über Analphabeten zu schreiben, wie eine Unterhaltung hinter jemandes Rücken. Über jemanden reden, nicht mit jemandem. Das ist nicht nett. Und besonders aufklärerisch ist dieser Beitrag jetzt auch nicht. Er ist einfach nur ein äußerst unbeholfener Ausdruck dafür, wie ohnmächtig ich mich als Fachlehrer diesem Problem gegenüber, im übermächtigen Rad des Schulsystems, gerade fühle. Ich setze meine Hoffnung darauf, dass wir anfangen werden, alle Menschen wertzuschätzen und ihre Partizipation als Teil des gemeinschaftlichen Diskurses anzuerkennen.

Bildquelle: Pixabay / CCO 1.0 / Jonny Lindner (Comfreak)