Der germanistische Amoklauf

Sprachen sind bei weitem die wichtigsten Träger kultureller Entfaltung und zugleich
das wichtigste Element nationaler – übrigens auch persönlicher – Eigenheit.

 – Helmut Schmidt (1918-2015)

Niemand weiß bis heute genau, warum ein Passagier am vergangenen Dienstag in der S45 um 18 Uhr 22 mit fünf Schüssen niedergestreckt wurde. Ich nehme selbst nur sehr selten eine Waffe mit, wenn ich öffentliche Verkehrsmittel benutze. Manchmal empfiehlt es sich aber aus Rücksicht auf die Mitreisenden, eine solche bei sich zu führen, wie die folgende Anekdote veranschaulicht. Als sein Psychotherapeut gelingt es mir vielleicht, ein wenig Licht auf die Motive des Täters, Flavius Wolbogen, zu werfen.

Er hatte keine leichte Kindheit, damit fing es an. Sein Vater hatte seine Mutter versehentlich erwürgt, nachdem sie ihm unabsichtlich ein Küchenmesser in den Oberarm gerammt hatte. So wuchs der junge Flavius in der Jagdhütte seines Großvaters auf, deren Wände über und über mit ausgestopften Gemsen- und Bergziegenköpfen bedeckt waren, und es war dem Großvater gelungen, eine ganze Gattung dieser Tiere im Alleingang auszurotten. Der junge Flavius hatte nicht viele Freunde in der Schule und verbrachte seine Freizeit überwiegend damit, Listen zu erstellen, die er aber niemandem zeigen wollte.

Sie müssen wissen, Wolbogen, der jetzt im Hochsicherheitstrakt von Rottenstein einsitzt, war in seinem bürgerlichen Leben Deutschlehrer, und diese haben in der heutigen Zeit keinen leichten Stand. Von den Kindern, die sich unter zwangsliberalen Eltern seit dem vierten Lebensjahr selbst verwirklichen, brauchen wir nicht erst zu sprechen. Wolbogen war in der Erwachsenenbildung tätig, und hatte jeden Tag den ganzen Tag mit den gleichen Dativ- und Akkusativ-Verwechslungen seiner Schüler aller Herkunftsländer zu kämpfen, die sich über die Eigenheiten des Deutschen lustig machten oder sich über sie aufregten – wenn sie nicht immer wieder die eine Frage stellten, die man sich in grammatischen Angelegenheiten nie stellen darf: Warum?

Durch die von den Anfängern stets aufs neue durcheinandergebrachten Artikel und Fragewörtern befand sich Flavius Wolbogen jeden Abend in einem Zustand psychischer Überreizung. Er begann zu trinken. Er begann, stärkere Sachen zu trinken, als er feststellen musste, dass auch die Gespräche mit anderen Deutschen bizarre Modephänomene aufwiesen.

„Die Anweisungen standen auch in Deutsch da.“ sagte ihm zuletzt ein Freund, wobei Wolbogen einen leichten Hautausschlag bekam und innerlich wiederholte: „Auf Deutsch! Auf Deutsch muss es heißen!“

„Kein Stress,“ erwähnte eine Freundin, „Du kannst auch erst um vier kommen. Alles gut.“

Wolbogen biss die Zähne zusammen. „Alles ist gut.“ zischte er für sich. „Alles i s t gut. Und keinen Stress. Kein e n Stress!“

Es war ein besonders anstrengender Tag gewesen, an dem Wolbogens Schüler nichts von dem, was er ihnen im Laufe der vergangenen zwei Wochen beigebracht hatte, behalten zu haben schienen. Ein alter Schulfreund, den er am Nachmittag traf, traktierte ihn mit Bezeichnungen wie „Ich erinnere das“ oder „Zufriedenheit meint, genug Geld zu haben“, darüber hinaus mit Sätzen wie: „Das ist ein völlig neues ball game und absolut fine with me. Es ist zwar noch pending, aber wir gehen diesen extra mile. Dann kommen wir wieder back on track.“

Auf dem Weg zur S-Bahn begegneten ihm drei verblüffend hässlichen jungen Frauen – Studentinnen der Physik, wie er vermutete – die zueinander sagten: „Vielen Dank, dass du diese Inhalte mit mir geteilt hast!“ „Kein Problem – danke fürs Kümmern!“

Bis aufs Blut gereizt stieg Wolbogen gegen 18 Uhr 15 in die S45, gleich hinter ihm ein laut telefonierender Herr mit einem „Bio macht schön“-Jutebeutel, der so aussah, als hätte er schon mehrmals hineingeschneutzt. Der Mann setzte sich nicht ans andere Ende des Wagens, wie es Wolbogen gehofft hatte, sondern direkt auf den Sitz in der gleichen Reihe, nur durch den Gang getrennt.

„Ich bin in der S-Bahn. Ja, in der S-Bahn. In der S-Bahn bin ich. Nein, in der S-Bahn.“

Wolbogens Hände krampften sich um die Armlehnen, dass die Knöchel ganz weiß wurden.

„Ja, jetzt fahren wir los. Wir fahren los. Jetzt, ja. Gleich bin ich da.“

Wolbogen begann, wie ich ihm in solchen Situationen geraten hatte, seine Gedanken aufzuschreiben. Das Blatt, aus einem Schreibblock gerissen, wurde nachher in seiner Tasche gefunden. Es begann mit den Worten: „Es ist mir ein besonderes Anliegen, zu Papier zu bringen, wie sehr ich meine Mitmenschen hasse. Nicht nur die Ausländischen. Alle.“ Etwas weiter unten stand in hastiger, stark durchgedrückter Schrift: „Ich will nicht immer nett sein.“

„Nein, ich habe mir gerade noch ein Dinkel-Bulgur-Croissant gekauft.“ sagte der viel zu nah sitzende Mitreisende in sein Handy. „Und Saskia und Kevin? Aber ich dachte, Kevin hätte was mit Jenny. Ach – ist Lulu nicht mehr mit Chris zusammen? Ja, das zwischen Jenny und Chris war aber nur sexuell, das weiß ich von beiden. Nein, sie haben miteinander geschlafen. Vielleicht auch nur oral, ich muss sie das nächste Mal fragen. Ja, jetzt sind wir schon losgefahren. Ich bin in der S-Bahn. Wir fahren. In der S-Bahn. Nein, kein Stress. Kein Stress. Alles gut!“

Der Telefonierende sah auf zu der Gestalt, die vor ihm stand, und den Lauf einer nicht besonders großen Mauser-Pistole auf seine Stirn richtete.

„Alles ist gut.“ sagte Wolbogen. Und drückte ab.

von Max Haberich