„Die Stadt, in der es mich nicht gibt“ – Erzählte Zeitreisen von kaum zu überbietender Brisanz

Die Gegenwart durch Zeitreisen verändern; das, was man für würdig hält, optimieren – oder aber das, was sich nie hätte begeben dürfen, vereiteln. Bei alldem scheint es sich um eine Idee zu handeln, die in ihrem Kern seit jeher Gegenstand wissenschaftlicher Debatten, hitziger Auseinandersetzungen und nicht zuletzt sehnsüchtiger Träume gewesen ist. Unter Absehung von allen physikalischen oder philosophischen Implikationen, die sich diesem Komplex eingeschrieben finden, fragt sich, ob aus ihm überhaupt noch unterhaltsame Geschichten erwachsen können, ohne dem Unbegreiflichen anheimzufallen oder aber wohlbekannte Klischees zu reproduzieren und in Einförmigkeit abzudriften. Vermag das Zeitreisen als Katalysator von Erzählungen und fiktionalen Texten wirklich einen Effekt zu erzielen, der der Rede wert ist? Oder kurz: Taugt dieser Stoff noch als Leitmotiv?

Ein Beispiel, welches dezidiert dafürspricht, soll nachfolgend präsentiert werden: In der Anime-Serie Die Stadt, in der es mich nicht gibt (auf Deutsch veröffentlicht seit 2017, basierend auf dem Manga von Kei Sanbe) findet sich der Zuschauer nämlich eingeladen, das Zeitreisen in seiner umfassendsten Tragweite zu ermessen und ihm auf affektiv ansprechende Weise nachzuspüren. Dass man Geschichten auf derartigem Reflexionsniveau nicht selten zum subkulturellen Phänomen degradiert sieht, mag hier nur deshalb Erwähnung finden, weil so ein weiteres Exempel zur Darstellung kommt, das diesem Klischee mit aller gebotenen Strenge begegnet und widerspricht.

Zum Inhalt: Im Jahr 2006 wird der 29-jährige Mangaka Satoru Fujinuma brüsk von seiner Vergangenheit eingeholt, da seine Mutter Sachiko den wahren Täter einer 18 Jahre zuvor vermeintlich aufgeklärten Mordserie wiedererkennt und jenem selbst zum Opfer fällt, ehe sie seinen Namen preisgeben kann. Satoru, der just nach dem tödlichen Angriff auf seine Mutter diese vorfindet und, vom Täter keine Spur, selbst unter Verdacht gerät, wird absichtslos in die Vergangenheit zurückgeworfen und sieht sich nun in den Stand gesetzt zu verhindern, was in der Gegenwart erneut hohe Wellen schlägt und seine Existenz bedroht. Nun hat es Satoru selbst in der Hand: Ihm obliegt es, den Mord an seiner damaligen Schulkameradin Kayo Hinazuki und weiteren Schülern zu unterbinden – um in letzter Instanz die eigene Mutter, den aus seiner Sicht zu Unrecht verurteilten Jun Shiratori und nicht zuletzt sich selbst aus dem Verderben zu erretten. Auf was für ein buchstäbliches Spiel gegen die Zeit – und einen teuflischen Widersacher – er sich hierbei einlässt, kann er zunächst nur erahnen.

Der Zuschauer wird mitgerissen und findet sich wieder in einem betrübenden Szenario unaufgeklärter Taten, deren Auswirkungen Jahre später in perfide Verwicklungen einmünden. Jedoch bieten sich auch immer wieder blasse Hoffnungsschimmer dar, um die volle Bandbreite menschlicher Gefühlsregungen auszuschöpfen. Das Potenzial dessen, was unter anderen Umständen hätte passieren können, wird gänzlich freigesetzt: Wäre doch nur jemand zum rechten Zeitpunkt eingeschritten und hätte die Opfer aus ihrer verhängnisvollen Isolation befreit, hätte die Mutter nur sofort den Namen des Täters kundgetan etc. etc. – gegen Reflexionen dieser Art ist man als Zuschauer ebenso wenig gefeit wie der Protagonist selbst. Man wird ohne Umschweife Zeuge einer strategisch anspruchsvollen, über lange Zeitspannen geführten Auseinandersetzung um das Wohlbefinden und Überleben der Liebsten sowie um den Gerechtigkeitssinn unseres gesunden Menschenverstandes allgemein. Nicht zuletzt wird offenbar, dass die Antagonisten sich womöglich näherstehen, als man eingangs angenommen hätte. Eine Schlichtung und Differenzierung all dieser Konflikte bleibt zwingend und veranlasst zu Überlegungen umfassenderer Art – zu Gedankenspielen, die über die partikularen Begebenheiten der Geschichte weit hinausreichen.

Der Eindruck, ungeachtet seines Wissens um die Zukunft immer einen Schritt hinter der Vergangenheit zurückzuliegen, gereicht freilich nicht nur dem Protagonisten Satoru zum Unbehagen, sondern setzt eine Tiefendimension menschlichen Bewusstseins frei, die das Handeln überhaupt in seiner Sinnhaftigkeit wie Erfülltheit tangiert. Was können wir in essenziellen Belangen wirklich erreichen und welche authentisch gewähnten Träume entpuppen sich bloß als arglistige Trugbilder? Hier geht es nicht um subkulturell ausgeformtes Rollenspiel; es geht vielmehr um eine Geschichte, die ebenso universell berührt wie denkerisch kultiviert!

Unter dem Titel Erased – Die Stadt, in der es mich nicht gibt findet sich die gesamte Serie (12 Folgen) auf Netflix.

Weiterführend über die kontrovers diskutierte Frage nach dem subkulturellen Potenzial von Animes: Stephan Köhn: „Anime ist nicht gleich Anime. Zur ambivalenten Rezeption japanischer Zeichentrickproduktionen in Deutschland am Beispiel von Miyazaki Hayaos ‚Chihiros Reise ins Zauberland‘“, in: Michiko Mae/Elisabeth Scherer (Hgg.): Nipponspiration. Japonismus und japanische Populärkultur im deutschsprachigen Raum. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2013, 259–278.

Foto: privat

Ich danke NR für seine wertvollen Hinweise und Ideen!