Korrespondenz nach einem Abend beim Asiaten

Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen.

– Sun Tzu, Die Kunst des Krieges

Rüdersdorf bei Berlin, den 2. Januar 2022

Sehr geehrter Herr Professor Dr. Sonderhausen,

es war eine besondere Freude, nach langer Zeit wieder einmal einen Abend mit Ihnen und Ihrer Gattin verbracht zu haben. Gerade Ihre Frau scheint über die letzten Monate etwas zugelegt zu haben, was Ihr aber keinesfalls schlecht steht. Und wie man bei Ihnen – wie selbstverständlich auch bei mir – feststellen muss: Wir werden eben nicht jünger!

Im Hinblick auf gewisse Gesundheits- und Gewichtsprobleme, mit denen wir alle ganz offensichtlich zu ringen haben, konnten meine Gattin (78 kg) und ich es nur begrüßen, dass Sie als Ort unserer längst überfälligen abendlichen Zusammenkunft einen Vietnamesen vorgeschlagen haben. Nach einer kurzen Erwägung, das Jägerschnitzel zu wählen, entschied ich mich, wie Sie sich erinnern werden, für die Pho-Suppe mit Meeresfrüchten: Welche Symphonie fernöstlicher Gewürze, die allesamt aufzuzählen meine beschränkten Kenntnisse – in diesem Bereich! – übersteigen würde.

Der Anlass, aus dem ich mich heute an Sie wende, ist das nicht mehr zurückzuhaltende Bedürfnis, Ihnen einen Rat als Freund zu erteilen – wenn ich mich nach unserer achtzehnjährigen Bekanntschaft schon so bezeichnen darf. Sollte es in der Folge zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kommen, was keiner von uns wünschen kann, liegt die Korrespondenz hiermit schriftlich vor: daher die Briefform.

Es ist nämlich nicht nur mir, sondern auch meiner Frau Gemahlin aufgefallen, dass Sie Ihr Sushi jedesmal zu lange in der Sojasoße haben liegen lassen. Wir haben uns vor dem Schlafengehen noch eine gute Viertelstunde darüber unterhalten. Je-des-mal! Unter uns Pastorentöchtern: Sie speisen doch gewiss nicht zum ersten Mal bei einem Asiaten. Vietnamesische Gaststätten sind in Mitteleuropa nichts Neues mehr. Bereits zu Zeiten der DDR existierte eine ansehnliche Gemeinde in Berlin. Und selbst wenn Sushi ursprünglich aus Japan stammt, kann man von einer vietnamesischen Küche durchaus erwarten, dass sie die authentische Konsistenz des Reises hinbekommt. Ich schneide Ihnen also eine diesbezügliche Ausrede ab.

Daher mein Hinweis an Sie: Tunken Sie Ihre Maki nur kurz ein! Es sollte sichtbar sein, dass der Reis die Sojasoße aufnimmt. Aber den Leckerbissen noch fest im Griff Ihrer Stäbchen und dann – schwupps! – in die alte Lasterhöhle. So gelingt es, Sushi sauber und ordentlich zu verzehren, ohne – ich betone nochmals: jedesmal! – einen unansehnlichen Reisbrei, der mit Stäbchen überhaupt nicht mehr aufzunehmen ist, in Ihrem Soßenschälchen zu verursachen. Gerade bei einem geschäftlichen Essen hinterlassen Sie ohne Korrektur einen nicht wiedergutzumachenden schlechten Eindruck. Daher mein wohlgemeinter Rat an Sie – als Freund.

Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung,

Ihr sehr ergebener

Joseph Göring

Königswusterhausen, den 23. Januar 2022

Sehr geehrter Herr Dr. Dr. Göring,

ich bin Ihnen für Ihren freundschaftlichen Hinweis sehr verbunden. Möglicherweise haben Sie den mir von Familie und Kollegen verborgenen Grund entdeckt, warum ich nunmehr seit Jahren vergeblich auf die Stelle als Fakultätsleiter warte.

Dennoch will und darf ich Ihnen nicht vorenthalten, dass das emotionale Trauma, welches Ihre Worte in mir ausgelöst haben, mich doch über vierzehn Tage sehr beschäftigt hat. Ursprünglich hatte ich vorgesehen, Ihnen an jenem denkwürdigen Abend das Du anzutragen, was vermutlich im Zuge unserer Ausgelassenheit vergessen wurde. Inzwischen muss ich aus persönlichen Gründen, die Sie nachvollziehen werden, Abstand davon nehmen.

Erlauben Sie mir stattdessen, den Gefallen, den Sie mir erwiesen, zu erwidern: Der auf der südostasiatischen Halbinsel weit verbreitete, tiefe Suppenlöffel, im Vietnamesischen als „thìa canh“ bezeichnet, wird keinesfalls wie bei unseren, mit einer flacheren Essensmulde versehenen Löffeln ganz in den Mund geschoben. Vielmehr schlürft man die Suppe ohne unnötige Geräusche heraus und darf durchaus mit der Gabel die festeren Bestandteile herauspicken. Was Sie auf dem Tischtuch verursacht haben, ließ nicht nur mich, sondern auch meine Gattin (42), die den gesamten Abend über gelöster, ausgeglichener, fröhlicher wirkte als Ihre Frau, an die Seeschlacht vor Trafalgar denken. Ich meine mich zu erinnern, dass meine Gemahlin auch einmal den Angriff auf Pearl Harbour erwähnte.

Denken Sie also bitte im formellen Rahmen einer akademischen Konferenztafel daran: Schlürfen, aber möglichst leise! Es wirkt sonst geradezu gierig, und niemand wird Ihnen Ihre Suppe wegnehmen.

Gestatten Sie mir bitte zum Abschluss, die Hoffnung auszudrücken, dass die auffallende, an Trübsinn grenzende Gehemmtheit Ihrer Gattin an jenem Abend bloß auf ein rasch vorübergehendes Unwohlsein zurückzuführen sei, und nicht auf tiefer wurzelnde Probleme Ihrer ehelichen Beziehung.

In Achtung und Wohlwollen,

Mit wissenschaftlichen Grüßen,

Ihr Rüdiger Sonderhausen