Fechten, aber mit Worten – eristische Dialektik nach Arthur Schopenhauer

Dem rhetorischen Säbelrasseln und dem akademischen Disput scheint seit alters her eine gewisse Magie innezuwohnen, die sich nicht auf systematisch angeleitete Wahrheitssuche im wissenschaftlichen Kontext restringieren lässt. Wenngleich gerade letztere in den meisten geisteswissenschaftlichen Studien eine ebenso erheiternde wie unerlässliche Praxis darstellt, so kann es gleichwohl niemandem zum Schaden gereichen, wenn er sich ergänzend auch mit der Kunst befasst, die einzig und allein der Überzeugung des Gegenübers und dem Bestehen von Meinungen im offenen Gespräch zugedacht ist. Eine solche Kunst, recht zu behalten, findet sich bei dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer auch als eristische Dialektik – und zwar in der vor diesem Hintergrund verfassten und seinem Nachlass entstammenden Schrift, die erst postum und unvollendet publiziert worden ist (vgl. Lemanski 2018, 166 f.).

Was Schopenhauer in diesem kleinen Kompendium zu entwickeln sucht, ist eine Dialectica eristica, in der Tat und wörtlich eine „geistige Fechtkunst zum Rechtbehalten im Disputieren“ (19). Auf der Basis der Art und Weise, wie Gesprächspartnern es gelingt, ihre Gegenüber für sich einzunehmen, werden, nach einer einführenden terminologischen Sektion, 38 sogenannte Kunstgriffe (die sich weiter kategorisieren ließen) dargelegt (vgl. Lemanski 2018, 168). Diese Formen gilt es anhand von Beispielen leichter zu erkennen und – um die Fechtmetaphorik, wie Schopenhauer selbst mehrfach, aufzugreifen – zu parieren (vgl. 19 f.). Objektive Wahrheit wird dabei, das hebt der Verfasser eigens hervor, „bei Seite gesetzt oder als akzidentell betrachtet“ (18) – im methodologischen Vordergrund steht die rhetorische Durchsetzung der vertretenen Auffassungen, die – sofern wahr – im Vorteil sind (vgl. 17), jedoch nicht notwendig den Sieg davontragen: Oft genug sieht sich der eigentlich Irrende dem Rechthabenden überlegen (vgl. 10) – und jene Technik, wie er zu diesem Resultat gelangt, hat die von Schopenhauer in den Blick genommene Dialektik zum Gegenstand. Dabei kommt ihr auch heute eine unverkennbare Aktualität für die Forschung zu (vgl. Lemanski 2018, 166).

Um ein Panorama dessen darzubieten, was Schopenhauer mit seiner Dialektik konkret zur Anschauung bringt, sollen fünf ausgewählte Kunstgriffe paradigmatisch ins Feld geführt werden:

1.

Eindrücklich ist die Empfehlung aus dem 18. Kunstgriff, der einen Ausweg bietet, so man im Begriff steht, argumentativ „geschlagen“ zu werden: Die sogenannte mutatio controversiae schafft Abhilfe durch das geschickte Umlenken des Argumentationsganges, ohne dass der Gegner davon Notiz nehmen könnte (vgl. 47). Dass hierbei die Wahrheitsfindung eine untergeordnete Rolle spielt, ergibt sich ohne Weiteres: Gefochten wird „per fas et nefas“ (12).

2.

Thematisch nicht abgegolten ist ebenso der 23. Kunstgriff, der von dem mit einer These verknüpften Umfang handelt – dieser kann groß oder weniger groß sein und bietet dementsprechend mehr oder weniger Angriffsfläche. Der Kunstgriff selbst besteht darin, den Gegner zur Ausdehnung des in Rede stehenden Umfangs seiner Behauptung zu veranlassen, wohingegen man selbst auf eine möglichst feine und differenzierte Argumentation bedacht sein sollte, um sich keine Blöße in Fragen zu geben, auf die man ursprünglich gar nicht zu antworten beabsichtigt hatte (vgl. 52).

3.

Was methodologisch sehr an die Fechtkunst gemahnt, ist ferner der 26. Kunstgriff, die sogenannte retorsio argumenti. Sie liegt in der Umkehrung und Entwendung eines Arguments, um es den eigenen Zwecken dienstbar zu machen. So kann der Grund für eine Behauptung gerade der kontradiktorisch entgegengesetzten Folge zugeschrieben werden, um diese durch ein „Gerade- oder Eben-Darum“ zu zersetzen (vgl. 55).

4.

Von bestechender Brisanz ist zudem der 32. Kunstgriff der Ismen: Wie so oft kann es von Nutzen sein, die Position des Gegners in diesem semantischen Feld als Ismus einzustufen, um ihr so die gesamten damit einhergehenden Assoziationen beizubringen (vgl. 68): Idealismus, Realismus, Materialismus etc. lassen denjenigen im Vorteil, der sie identifiziert zu haben glaubt. Der Gegner wird große Mühe darauf verwenden müssen, die einmal getroffene Zuschreibung in Zweifel zu ziehen – mit ungewissem Erfolg.

5.

Dass auch emotionalen und affektiven Erwägungen eine substanzielle Relevanz zuzubilligen ist, zeigt etwa der achte Kunstgriff. Hier wird geraten, den Gegner zu provozieren, um seine Genauigkeit im Argumentieren zu beeinträchtigen (vgl. 36). Analoges findet sich im letzten Kunstgriff, wo der letzte Ausweg, der des Persönlich-Werdens (argumentum ad personam), zur Darstellung kommt (vgl. 75 f.).

Wie aus dem Gesagten zu ersehen ist, können die Kunstgriffe ins Unehrliche bis Unfaire ausarten – das ist der Tatsache geschuldet, dass sie – wie dargetan – nicht primär der Wahrheit, sondern dem argumentativen Sieg verpflichtet sind. Obgleich es als nicht ausgemacht gelten kann, inwieweit sich viele Kunstgriffe in Reinform wiederfinden lassen, so ist Schopenhauers Hinsichtenunterscheidung von Rechthaben und Rechtbekommen ebenso legitim wie unentbehrlich – zeigt sie doch unter Bezugnahme auf ein signifikant verschiedenes Methodeninstrumentarium auf, (a) worauf es beim Fechten und Parieren im kommunikativen Raum ankommt und (b) wie wir in den Stand gesetzt werden können, besonders hinterhältigen Vorstößen die Stirn zu bieten – eine veritable denksportliche Übung, wenn man gewillt ist, die Thematik pointiert zu fassen.

Textausgabe: Arthur Schopenhauer: Die Kunst, recht zu behalten. Ditzingen 62014. 92 S. (zitiert mit: [Seitenzahl])

Weiterführend: Jens Lemanski: „Eristische Dialektik“, in: Daniel Schubbe/Matthias Koßler (Hg.): Schopenhauer-Handbuch. Stuttgart 22018, 165–169.

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