Abschied oder Ankunft? – Teil 4: Immortalitas?
Nun: »Hier ist die Zeit stehen geblieben – und jeder Versuch, dieser Gewissheit zu entrinnen, muss sich als vergeblich erweisen«, erklärte ich, nachdem die dritte Geschichte zu Ende gegangen war. Wir durchlebten eine Abfolge ephemerer Begebenheiten, denen allesamt eine überzeitliche Wirksamkeit zukam. Diese jedoch erschöpfte sich gerade in ihrer zeitlichen Einschränkung: Gerade weil diese Narrative der Stimme, der Schulnostalgie oder des Nihilismus jeglicher Konstanz und Beständigkeit entsagten, vergingen sie und vergingen zugleich nicht: Letzteres, insofern sie auch nach ihrem materiellen Ende – in die Erinnerung zurückgerufen – von gleicher Lebendigkeit waren und sich nicht mehr umkehren ließen. Was sich einmal zugetragen hatte, zehrte immerdar vom Ganzen, wiewohl nur als noch so winziges Staubkorn. Einmal am Licht der Welt, war ein Moment nicht mehr aus der Zeit zu tilgen – er konnte zwar in seiner Bedeutsamkeit geschmälert werden: Doch auch das nur, wenn man sich genötigt sah, den Kenntnisstand der Zeitgenossen zum jeweilig beurteilten Augenblick gänzlich außer Acht zu lassen. Gemessen an diesem seinen Umfeld war jeder von besonderer Eigenheit und entzog sich allem Zweifel an seiner rechtmäßigen Würdigung – ganz gleich, was sich im Anschluss an den untersuchten Moment begeben und seine Geltung zunichtegemacht haben mochte. Er war einmal gewesen und bestand in dieser eingeschränkten Hinsicht auch für immer, insofern er sich nicht mehr aus der Welt schaffen ließ. Der Umstand, dass eine Person das Zeitliche gesegnet hatte oder ein Augenblick ein für alle Mal vorübergegangen war, machte diesen nicht ungeschehen, beraubte jene nicht ihres Glanzes zu Lebzeiten. Alles war Teil eines unendlich verzweigten Gefüges von Kontexten, die sich wieder und wieder an der Gegenwart brachen, ohne in dem Sinne der Vergänglichkeit anheimzufallen, wie wir für gewöhnlich annahmen. Ich verlor mich in Schwärmereien, mein Gegenüber war sichtlich von Trübsal bedrückt.
Hätte ich es nicht besser gewusst, wäre ich geneigt gewesen zu unterstellen, ich selbst partizipierte an einer solchen Geschichte: Derartige Regelmäßigkeit und nahezu erzählerische Präzision sorgte bei mir für ein Gefühl der Entfremdung und des Unbehagens: Wie konnte an diesem Bahnhof nur alles einem Schema folgen? Die merkwürdige Szenerie, die beiden jungen Frauen, deren Herkunft sich uns nicht erschließen wollte, die von ihnen zum Besten gegebenen Geschichten. Welches Reich es auch war, das wir anstandslos betreten hatten, es schien seinen Schleier nicht ohne Weiteres zu lüften. Ich hätte – so ich nun auch noch ins Märchenland geführt worden wäre – meine eigene Autonomie in Zweifel gezogen. Doch dem war nicht so: Jener Ort, wo wir auf einer Bank sitzend versonnen einigen Erzählungen lauschten, diese Aura ließ uns innehalten und rief uns ungeachtet der verloren geglaubten Ewigkeit immer neue Gestaltungen eben dieser vor Augen, welche unmerklich bekannt, aber doch verborgen und tiefsinnig anmuteten. Kommentarlos fuhr unsere Nachbarin hinter der Glasscheibe fort und bemeisterte sich der Zeit, die ich für meine unzulängliche Reflexion hatte aufwenden wollen. Erneut zog sie mich und mein Gegenüber in ihren Bann: Die Geschichte schien sich selbst zu schreiben und doch krochen wir aus der Feder eines Schreibers hervor, ohne auch nur im Mindesten eine Art Außenperspektive erlangen zu können. Wie in aller Welt konnte man auch nur einen einzigen Zusammenhang zwischen den Geschichten in Worte fassen oder gar den Versuch unternehmen? Immer lief man unweigerlich Gefahr, sich in »Zuckerwatte« zu verlieren. »Zuckerwatte«, so pflegte man in meinen Landen die sprachlichen Gebilde zu bezeichnen, welche sich nicht mehr unter vertretbarem Aufwand dechiffrieren ließen ob ihrer »zuckersüßen« Dichte; eng verwobene Strukturen, die keinen Einblick mehr in die Verhältnisse der Wirklichkeit gewährten. Wir konnten uns mithin gar nicht darüber im Klaren sein, wo wir uns befanden, da wir Teile einer Geschichte waren, die für uns gar nicht vorsah, dass wir zur Erkenntnis gelangten.
Dessen ungeachtet waren wir unserer gegenwärtigen Existenz gewiss und konnten uns folglich ebenso sicher sein, dass wir – ganz gleich ob Fiktion oder nicht – einen, wenn auch unerheblichen, Beitrag zu dem leisteten, was man gemeinhin unter dieser »Wirklichkeit« zu verstehen pflegte.
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Hierbei handelt es sich um einen rein fiktionalen Text, der als solcher zu behandeln und den allgemein anerkannten Grundsätzen gemäß zu lesen ist.
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