Toni Erdmann – ein Film für die Welt

Kinotipp

film-1155439_1280Die meisten Filme zeigen Menschen, die auf der Suche nach sich selbst, dem Glück und Erfüllung sind. Wenige aber tun dies so wie Maren Ades Toni Erdmann – gleichzeitig zurückhaltend, realistisch und eindringlich. In einer alles andere als gewöhnlichen Mischung aus schamloser Wirklichkeitsdarstellung und märchenhaften Wendungen geht es um viel mehr als eine bloße Vater-Tochter-Beziehung. Der deutsche Film, der seine Premiere beim Filmfestival in Cannes feierte, zeigt, wozu die Oberflächlichkeit der Gesellschaft, Erfolgsdruck und fehlende zwischenmenschliche Nähe führen können. Und dennoch macht er Mut, dass zumindest ein kleines Schlupfloch aus der Entfremdung existiert.

Der eigenwillige und unangepasste Musiklehrer Winfried, gespielt von Peter Simonischek,  Ensemblemitglied des Burgtheaters, überrascht seine Tochter Ines (Sandra Hüller) mit einem Spontanbesuch an ihrem Arbeitsplatz in Bukarest. Dort arbeitet sie als Unternehmensberaterin, geplagt und angestrengt von Verhandlungen mit undurchsichtigen Firmenbossen. Ihr Sozialleben beschränkt sich auf nächtliche Clubbesuche mit falschen Freundinnen und einer Affäre mit einem Kollegen, den sie auf Petit Fours onanieren lässt. Ines gibt vor zufrieden zu sein, doch ihre Verlorenheit lässt beim Kinobesucher ein beklemmendes Gefühl entstehen. Vater und Tochter sind sich völlig fremd geworden. Winfried, den so mancher wohl auch als gescheiterte Existenz bezeichen würde, kann das Leben seiner Tochter nicht als erstrebenswert empfinden; in seiner forschen Art stellt er ihr die richtigen Fragen: „Bist du eigentlich glücklich?“ und vor allem „Bist du überhaupt ein Mensch?“.

Winfried und Ines begegnen sich wie zwei Menschen von unterschiedlichen Planeten. Er schenkt ihr eine Käsereibe zum Geburtstag und sie fragt, wie lange er eigentlich bleiben wolle. Doch als Winfried abreist, kehrt er in Form seines Alter Ego Toni Erdmann zurück. Er beginnt ein Spiel mit Ines zu spielen, in dem er als Vater nicht mehr vorkommt: „Wenn es um Ihren Vater geht, da bin ich nicht der Richtige.“

Toni Erdmann schleicht sich also in Ines Leben und beginnt langsam aber sicher an der Oberfläche zu kratzen. In den 162 Minuten des Films, der trotz seiner ungewöhnlichen Länge nicht langatmig wird, sehen wir zu, wie Ines beginnt zu spüren, dass man sich an einem bestimmten Punkt frei machen muss von allem, was einen einengt; sie nimmt das schließlich wörtlich und entledigt sich für einen Moment schlichtweg von ihrem selbst angelegten Panzer.
Das alles klingt schwer, doch schafft es der Film, dies mit einer solchen Leichtigkeit und Witz zu tun, dass so manchem Zuschauer vor Lachen die Tränen kommen.

Obwohl die Realität Winfried und Ines zwangsläufig wieder einholt, zählt der Augenblick, in dem sie erkennen, dass es so nicht mehr weitergehen kann und man lernen muss, sich selbst zu akzeptieren, um in diesem Leben nur irgendwie bestehen zu können. Die Distanz muss aufgebrochen werden, um einem wertvollen Menschen einen Schubs in die richtige Richtung zu geben, und das kann im wahrsten Sinne ein schmerzhafter Prozess sein. Auch lernen wir mit Toni Erdmann, dass wir die wichtigen Momente im Leben nicht greifbar festhalten können. Was wir aber können, ist, sie in sich zu bewahren und aus der Erinnerung an sie zu schöpfen. Dafür muss man sie aber vor allem erst einmal auch als solche wahrnehmen lernen.

Für Toni Erdmann sollte die Kategorie Weltfilm als Entsprechung zur Weltliteratur eingeführt werden. Denn von der Kritik am erschreckend wahren Soziogramm, das der Film von unseren westlichen Gesellschaften zeichnet, können Menschen über Generationen und Nationen hinweg zehren. Nicht nur Ines kommt sich selbst wieder ein Stückchen näher, auch der Zuschauer spürt die kathartische Wirkung von Toni Erdmanns Methoden!

Foto: Pixabay, CC0 public domain (Gerd Altmann)