„Von der Kürze des Lebens“

“Alles eine Frage der Perspektive”, würde der Philosoph Seneca heute vermutlich sagen, wenn man sich beschwerte, dass das Leben zu kurz sei. Entgegen der Auffassung vieler, die sich darüber beklagen, wie schnell die Zeit doch vergehe, vertritt Seneca in seinem Werk “Von der Kürze des Lebens” eine andere Ansicht: nämlich die, dass es nicht zu wenig Zeit ist, die wir haben – sondern dass wir zu verschwenderisch damit umgehen. Das Leben sei lang genug, schreibt er, und reichlich bemessen auch für die allergrößten Unternehmungen – wenn es nur insgesamt gut angelegt werde. Auf knappen 60 Seiten geht es in diesem Werk um die Frage, aus welchem Blickwinkel man auf das Thema Zeit schauen sollte und wie man selbige am besten nutzt.

Einerseits sind wir umgeben von Schnelllebigkeit; unsere Tage sind oft durchgetaktet und ein Termin folgt auf den nächsten. Neue Lebenssituationen werden oft so schnell zur Routine, dass wir uns schon wieder nach Neuem sehnen. Andererseits schieben wir alles vor uns her. Dinge, nach denen wir uns jetzt bereits sehnen, nehmen wir uns für das fünfzigste oder sechzigste Lebensjahr vor, weil wir meinen, erst dann die Ruhe dafür zu haben. Doch “wer wird es gestatten, dass alles so verläuft, wie du es dir einteilst?” – eine Frage, die Seneca zu Beginn seines Werks stellt.

Das Problem rühre daher, dass wir dauerbeschäftigt seien, und Seneca unterscheidet hier nicht zwischen Tätigkeit und Ruhe, sondern betrachtet eher die geistige Verfassung. Bei manchen Menschen sei selbst die Ruhe voller Geschäftigkeit, weil sie stets mit Sorgen und Gedanken über die Zukunft gefüllt sei. Er beschreibt eine Art innere Unruhe, die uns ein Leben lang begleiten kann, wenn wir uns nicht mit ihr auseinandersetzen – eine Unruhe, die unsere Lebenszeit verstreichen lässt, ohne dass wir diese richtig nutzen.

Unterscheiden müsse man zwischen Leben und Zeit, schreibt Seneca und beruft sich dabei auf den griechischen Komödiendichter Menander, der einmal gesagt haben soll: “Nur ein kleiner Teil des Lebens ist es, den wir leben.” Die gesamte übrige Spanne sei nicht Leben, sondern Zeit. Seneca zufolge ist das zu vergleichen mit einem Schiff, welches den Hafen verlässt, gleich darauf in einen Sturm gerät und von den starken Winden monatelang auf der gleichen Bahn im Kreis herumgetrieben wird – hier würde man auch nicht behaupten, dass der Kapitän eine weite Seereise unternommen habe; er ist nur viel hin und her geworfen worden. Gleichermaßen könne man ein unruhiges Leben betrachten – es sei eher abgesessene Zeit als ein gelebtes Leben.

Zeit sei die kostbarste Sache der Welt, und doch gehe man mit ihr oft um “wie mit einem Spielzeug”. Den Grund für diesen oft verschwenderischen Umgang mit der Zeit sieht Seneca darin, dass Zeit etwas Unkörperliches, Unsichtbares ist. Dinge, die wir mit bloßem Auge sehen können, sind sehr leicht einzuteilen – da wir ihre Menge genau erkennen und beurteilen können. Mit der Zeit verhält es sich anders, da nicht gewiss ist, wie viel Zeit uns im Leben noch zur Verfügung steht. Deshalb fällt es uns oft so schwer, uns unsere Zeit richtig einzuteilen.

Manch einem mag an dieser Stelle vielleicht der 2011 erschienene Film In Time in den Sinn kommen. Hier ist Zeit nicht mehr abstrakt und ungreifbar, sondern sichtbar. Das Sprichwort “Zeit ist Geld” wird hier wörtlich genommen – der Film spielt in einer Welt, in der Zeit als Währung gilt. Geld existiert nicht mehr, stattdessen trägt jeder eine in den Arm implantierte Uhr, die die Sekunden herunterzählt. Als Gehalt gibt es mehr Zeit auf der eigenen Uhr – wer hingegen etwas kaufen möchte, zahlt mit den Minuten auf seinem Arm. Wenn die Zeit abläuft, ist auch das eigene Leben zu Ende. So entsteht hier ohne Geld dennoch eine Kluft zwischen arm und reich – während die Armen von Tag zu Tag leben und nur knapp über die Runden kommen, sind die Reichen mehr oder weniger unsterblich, weil sie unendliche Mengen an Zeit haben. Ein interessanter Blickwinkel auf die Frage, wie sich unser Leben ändern würde, wenn wir konkret wüssten, wie viel Zeit uns noch im Leben bleibt.

Seneca sieht den besten Umgang mit der Zeit in der Ruhe, Muße und Weisheit. Dazu gehört ihm zufolge die Befreiung von den Sorgen und Mühen des Lebens. Diese Ruhe und Sorglosigkeit oder “tiefe Seelenruhe”, wie er sie nennt, könne erreicht werden durch Erkenntnisse aus den Wissenschaften, Zurückgezogenheit, Liebe zu den höchsten Tugenden, Vergessen der Leidenschaften und durch das Wissen um Leben und Sterben.

Aus heutiger Sicht kann man das Werk vielleicht als eine Art Plädoyer für bewusstes Leben sehen. Als Erinnerung daran, sich nicht über seinen Besitz oder seine Taten zu definieren, sondern sich zwischendurch Zeit und Ruhe für sich selbst zu nehmen und sich mit den eigenen Gedanken auseinanderzusetzen. Seneca empfiehlt außerdem, jegliche Handlungen der eigenen ständigen Prüfung zu unterziehen, die niemals in die Irre gehe; denn nur dann sei es möglich, ein gutes Verhältnis zur eigenen Vergangenheit und zum eigenen Leben zu bewahren – was natürlich völlig utopisch ist, denn kein Mensch kann jede einzelne Handlung immer wieder überprüfen; und erst recht nicht, ohne sich auch mal im eigenen Urteil zu irren. Dennoch finden sich in diesem Buch viele Gedanken, die interessante Perspektiven auf das Thema Zeit bieten, sowie auch Ratschläge zum Umgang mit der eigenen Zeit, die in gewisser Weise – ja, was auch sonst – zeitlos sind.

Literatur: Seneca. Von der Kürze des Lebens. 4. Auflage, 2019, Reclam.
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