Über die moralische Wertung der Begriffe „alt“ und „modern“

Es ist ein durch und durch amerikanischer Ansatz, neue Dinge als „gut“, alte Dinge als „schlecht“ wahrzunehmen. Wenn etwas alt ist, schmeißt man es weg und kauft etwas Neues. Das ist eine konsumgetriebene Sichtweise, die mit der zunehmenden Technisierung des Lebens auch bei uns um sich greift. Ein Handy vom vergangenen Jahr hat keine so hohe Auflösung wie das Modell von heute – also muss es ersetzt werden. Warum? Den Zweck, zu dem man ein Handy gekauft hat – um zu telefonieren – können beide erfüllen.

Abgesehen vom Auftrag der Werbung, minimale Verbesserungen an ihren Produkten als bahnbrechende Neuerungen zu verkaufen, steckt in vielen Köpfen unserer Zeitgenossen die Annahme, dass etwas Neues, Modernes automatisch besser sein muss als etwas Altes. Aber „alt“ und „modern“ sind keine Qualitätskriterien.

Linearer Fortschritt, die allgemein vertretene Annahme, dass der Ablauf der Zeit ein steter weg nach oben und eine Verbesserung aller, oder doch der meisten Bereiche darstellt, widerspricht nicht nur dem eher wellenartigen Gang historischer Entwicklung. Die Menschheitsgeschichte der vergangenen zweihundert Jahre scheint eher aus Revolution und Gegenrevolution zu bestehen: Französische Revolution – Restauration nach dem Wiener Kongress – Revolution von 1848 – konservative Ära, und so fort bis ins 20. Jahrhundert, in dem auf die moralisch strenge viktorianische Epoche die „Wilden Zwanziger“ gefolgt sind, und die restriktiven Konventionen des Dritten Reichs, später die bürgerliche Atmosphäre der Adenauer-Jahre von der hemmungslosen Lebensfreude der 1968er durchbrochen wurden. Um ein Bild zu verwenden, könnte man von einem Pendelschlag sprechen.

Selbst die technische Entwicklung weist irrationale Züge auf, und nicht immer kann sich die effizienteste Erfindung durchsetzen. Prof. Barbara Schmucki von der Universität York (GB) verweist in ihrer Arbeit darauf,[1] dass es in den 1930er Jahren nicht gelungen ist, die heute verbreitete Qwertz-Tastatur durch die alternative Dvorak-Tastatur zu ersetzen, obwohl Studien bewiesen haben, dass Sekretäre den Umgang mit der neuen Tastatur nicht nur rascher lernen, sondern damit auch schneller tippen konnten. Ob es allein an wirtschaftlichen Interessen lag, dass Qwertz heute den weltweiten Standard darstellt, an dem Widerwillen, sich umzustellen, oder an einem weniger erklärbaren Motiv, ist schwer zu sagen.

Ein weiteres interessantes Beispiel besagter Technikhistorikerin besteht darin, dass Familien im 21. Jahrhundert genauso viele Stunden beim Wäschewaschen verwenden als um 1800. Die Arbeit ist, im Kontrast zu früheren Zeiten, nicht mehr körperlich anstrengend. Aber während es vor zweihundert Jahren genügt hat, wenn das Dorf einmal im Monat kollektiv gewaschen hat – weil alle Menschen ohnehin gleich streng gerochen haben – brachten steigende hygienische Standards die Notwendigkeit mit sich, öfter zu waschen. Einmal im Monat reichte nicht mehr, es musste bald mindestens einmal in der Woche sein. Kraft hat uns die Erfindung der Waschmaschine also gespart, Zeit hingegen nicht.

Mit diesen Beispielen soll infrage gestellt werden, ob der lineare Ablauf der Zeit unbedingt, wie gemeinhin angenommen, mit Fortschritt gleichzusetzen ist – selbst im technischen Bereich. Im Bereich der Gesellschaft, Justiz, Moral und Kunst ist diese Annahme ohnehin weitaus problematischer.

Um zu unserem Kontrast zwischen Alt und Modern zurückzukehren, und für den Moment bei Gegenständen zu bleiben: Ist eine Antiquität, etwa ein aus Nussholz gefertigter Sekretär aus dem 18. Jahrhundert, per se „schlechter“ als ein minimalistischer Couchtisch aus Edelstahl? Manche Menschen werden den Sekretär schöner finden, weil er aus natürlichen Materialein besteht und viele Stunden handwerklichen Geschicks in seine Herstellung geflossen sind. Warum man sich eher für das eine Möbelstück als für das andere entscheidet, ist letzten Endes eine Frage der Bildung, des Geschmacks – und des Alters. Dabei gibt es ohnehin die Begeisterung für „Vintage“-Produkte, für alte, oder „auf alt gemachte“ Kleidung, Accessoires und Möbel, deren vermeintlich verjährter Charme junge Menschen heute nach wie vor anspricht. Und schon bricht die allgemein vorherrschende Auffassung ein, das „modern“ automatisch irgendwie besser ist als „alt“ – sofern es nicht mehr nur um Qualität und Leistung, sondern um abstraktere Begriffe geht.

In Fragen der Ästhetik gestaltet sich, wie wir gesehen haben, diese Frage noch komplexer. In der Kunst mögen sich viele Betrachter eher zu einem Bild von Watteau hingezogen fühlen als zu einem Werk von Pollock. Die Entscheidung für das eine oder andere Bild ist individuell bedingt. Wie sie auch ausfällt, legt sie einen menschlichen Urtrieb an den Tag: das Bedürfnis nach Schönheit. Dieser Drang zum Schönen ist seit der Steinzeit in den Menschen gelegt, als er zum ersten Mal Farbe in die Hand genommen hat, um Jagdszenen auf seiner Höhlenwand festzuhalten. In der Postmoderne, oder Post-Postmoderne, wenn wir inzwischen dort angelangt sind, hören wir, dass die Schönheit überwunden ist. Sie wird als etwas Naives, Veraltetes belächelt, mit der Ironie behandelt, die in so vielen zeitgenössischen Werken nicht wegzudenken ist, und die Verzauberung durch sie wird als eine Art Weltflucht abgetan.

Unsere Auffassung von dem, was schön ist, hängt nicht nur von unserem jeweiligen Geschmack und unserer Bildung, sondern auch von unseren Gewohnheiten ab, und dieses Verständnis ändert sich von Epoche zu Epoche. Man denke nur an das gesellschaftliche Ideal der schneeweißen Haut der Frau um 1900 und die gebräunte Haut von heute. Hier gilt es aber, zwischen Mode und Schönheit zu unterscheiden, und letztere ist ein Phänomen, das zeitlich unabhängig ist. Um von Frauenhaut zu hoher Kunst zu springen, werden Bilder von Rubens oder Monet immer als schön empfunden werden. Es gibt einen Konsens durch die Jahrhunderte, der auch den Ruhm griechischer Theaterstücke sichert: In diesem Fall, weil sie ewig gültige menschliche Schwächen in all ihren Auswirkungen schildern. Im Fall der Gemälde, weil sie etwas Urmenschliches in uns ansprechen, auf das schon kleine Kinder reagieren, wenn sie eher nach einer mit ebenmäßigen Zügen gestalteten Figur als nach einer mit unsymmetrischen Zügen greifen. Schönheit ist nicht alt, sie ist ewig, und dadurch gleichzeitig modern.

Im nächsten Schritt wollen wir uns dem Dualismus „alt – modern“ in der Kunst- und Literaturgeschichte nähern, und damit, obwohl wir nun den Bereich der Wissenschaft betreten, moralischen Kriterien. Im barocken Rom des 17. Jahrhunderts, auf der Höhe der päpstlichen Macht, standen sich in Architektur und Bildhauerei zwei Konkurrenten gegenüber, die unterschiedliche Pole verkörperten: Gianlorenzo Bernini, dem Gestalter des Petersdoms, und Francesco Borromini, der die Kirche San Carlo alle Quattro Fontane auf dem Quirinalshügel erschaffen hat. Borromini war ein Schüler Berninis, und wenn der Lehrer die künstlerische Formensprache seiner Zeit beherrscht und auf einen neuen Gipfel hinaufgeführt hat, so wollte Borromini mit diesen Formen neue Ausdrücke finden. San Carlo wurde zur Zeit seiner Errichtung kontrovers diskutiert, weil der Architekt mit konkaven und konvexen Schwüngen gewagte Perspektiven schuf, die seine Zeitgenossen nicht gewohnt waren. Heute sind die Römer stolz auf diese Kirche, die aus dem Bestand ihres kulturellen Erbes nicht mehr wegzudenken ist.

In der Kunstgeschichte werden, ihres Ansatzes wegen, Borromini immer wieder als progressiver, Bernini als traditioneller Meister geschildert. Hier beginnt schon das Problem, denn bei diesen Begriffen schwingt oft eine moralische Wertung mit. Das eine Wort hat für diesen Leser einen positiven Beigeschmack, für den anderen nicht. Es wird noch komplizierter, wenn wir die Literaturgeschichte zur Hand nehmen und uns in die Autoren des frühen 20. Jahrhunderts vertiefen. Da beschreiben Germanisten Autoren, die über ihre Heimat schreiben, als traditionell, national, konservativ; und Autoren, die über das Elend der Arbeiter schreiben, als progressiv, fortschrittsorientiert, modern. Wer hat das Recht, diese Messlatten anzulegen? Hier fällt es selbst Professoren schwer, ihre politischen Sympathien ganz aus der eigenen Arbeit herauszuhalten. Aber Wissenschaft hat nicht politisch zu sein, sie hat erst recht nicht moralische Urteile zu fällen. Kunsthistoriker und Germanisten sollten sich in diesen Fällen vorsehen, sich selbst zu einer urteilenden Instanz aufzuschwingen.

Was uns aber die konkurrierenden Ansätze Berninis und Borrominis zeigen ist, dass diese Begriffe „progressiv“ und „traditionell“, „fortschrittlich“ und „konservativ“ in keiner Weise zeitgebunden sind. Es hat Menschen beider Einstellungen schon immer gegeben, und b e i d e hatten, ob sie es wahrhaben wollten oder nicht, ihren Blick auf die Zukunft gerichtet. Die Progressiven sind offener für einen radikalen Neubeginn und bereit, alles Alte über Bord zu werfen; die Traditionellen wollen unter Beibehaltung althergebrachter Aspekte voran und eine Brücke schlagen zur Vergangenheit.

Und so, wie diese Sichtweisen auf die Welt seit Luthers Zeiten existieren und schon davor, ebenso wenig gibt es „die“ Fortschrittlichen und Konservativen, denn in vielen Fällen besitzen selbst Exponaten der einen Richtung auch ausgeprägte Züge der anderen. Otto von Bismarck etwa, von vielen Zeitgenossen als schwärzester Reaktionär verschrien, führte die fortschrittlichste Sozialgesetzgebung seiner Zeit ein. Sein Zeitgenosse Friedrich Nietzsche, von manchen nach wie vor irrtümlich als Vordenker des Nationalsozialismus angesehen, legte mit der vorwärtsstrebenden Dynamik seines Denkens den Grundstein für die philosophische Entwicklung des 20. Jahrhunderts.

Wie sollen wir etwa mit einem Autor wie Jakob Wassermann (1873-1934) verfahren, der neben Kaspar Hauser (1908) mit Der Fall Maurizius (1928) einen der erfolgreichsten Romane der Weimarer Republik verfasste? Er war jüdischen Ursprungs, und kannte kein höheres Ziel während des ersten Jahrzehnts seiner literarischen Laufbahn, als sich als „echt deutscher“ Volksautor zu beweisen – was ihm von bestimmten Germanisten schon schwer zur Last gelegt wird. Nach dem Ersten Weltkrieg fand er zu Nietzsche, wurde ein glühender Anhänger des noch nicht europaweit bekannten Philosophen, und entwickelte 1913 sein eigenes Konzept eines jüdischen Übermenschen, des „Orientalen“, der Deutschland ein für allemal von der Geißel des Antisemitismus befreien sollte.[2] Ist Wassermann nun progressiv oder konservativ? Oder beides zugleich?

Was machen wir mit Richard Wagner – um einen Komponisten hinzuzuziehen – der als türmende Gestalt der Musikgeschichte die Harmonik und die Oper revolutioniert hat, dessen Einfluss sich kein zeitgenössischer Komponist entziehen konnte, und dessen symphonisches Erbe noch bei Gustav Mahler und Richard Strauss hörbar ist? Wie er schon an der Revolution von 1848 in Dresden teilgenommen hat, und deswegen des Landes verwiesen wurde, war er auch in der Musik ein Revolutionär, erhält jedoch durch seine spätere Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten, aber auch durch seine Schrift Über das Judentum in der Musik (1869), den Anruch des Reaktionärs.

Schwierig ist es natürlich, wenn ein Künstler sich selbst politisch äußert, denn diese Aussagen haben nicht unbedingt etwas mit der Orientierung in seinem Schaffensbereich zu tun. Es gilt auch, unbedingt zwischen Werk, Person des Künstlers, und die Rezeption der Nachwelt zu unterscheiden. So durfte Wagner jahrzehntelang nicht in Israel aufgeführt werden, bis dieses Verbot 2001 von Daniel Barenboim und der Berliner Staatskapelle mit einem Auszug aus Tristan und Isolde nicht ohne Proteste ausgehebelt wurde.

Gerade diese Geister sind doch die interessantesten: Diejenigen, die Elemente aus dem Alten und Neuen in sich aufnehmen und zu der einzigartigen Synthese ihrer Person, ihrer Weltanschauung verschmelzen. Mit ihnen umzugehen, erfordert Offenheit; die Bereitschaft, sich über die Vorurteile des Zeitgeistes hinwegzusetzen; den Willen, stets zu differenzieren; kurz zusammengefasst: einen kritischen Geist. Besitzt man ihn, ist man in der Lage, sich diesen Großen zu nähern und zu versuchen, sie zu erfassen. Denn diese aus heutiger Sicht kontroversen Philosophen, Schriftsteller und Musiker beweisen immer wieder aufs Neue die Komplexität des Menschen an sich, und sprengen die vereinfachenden Kategorien, in welche die Nachwelt und die Wissenschaft sie stecken will, in die Luft.


[1] siehe z.B. Introduction: Technology, (Sub)urban Development and the Social Construction of Urban Transport in: Divall, C. M. & Schmucki, B., Suburbanizing the Masses: Public Transport and Urban Development in Historical Perspective. Divall, C. & Bond, W., Hg. (Aldershot: Ashgate, 2003).

[2] Nachzulesen Jakob Wassermann, Der Jude als Orientale in: Dierk Rodewald, Hg.,Deutscher und Jude: Reden und Schriften 1904-1933/ Jakob Wassermann (Heidelberg: Schneider Verlag, 1984).