Ging Kant nicht weit genug? – Otfried Höffes Typologie zwischenstaatlicher Relationen

Ganz gleich, wie man in der Philosophie des Rechts und der Politik einen Staat konzipiert – er mag intern wesentlich beschaffen sein, wie er wolle –, so findet man sich in letzter Instanz kaum von der Obliegenheit entbunden, auch Vorschläge für die Zusammenarbeit zwischen mehreren Staaten zu unterbreiten und einschlägige Konzepte zu problematisieren. Operiert man nämlich auf der Basis einer plural organisierten internationalen Gemeinschaft, so tut man gut daran und kann schwerlich umhin, einen Plan für den Austritt aus dem – mit Kant gesprochen – Naturzustand zu haben:[1] Dieser ist etwa erst dann vollständig überwunden, wenn nicht nur die einen Staat bildenden Individuen, sondern ebenso die aus diesen sich speisenden Staatsgemeinschaften ihre Kooperation auf vertraglichen Übereinkünften basieren lassen.[2]

Immanuel Kant schlägt namentlich in seiner 1795 erstpublizierten Schrift Zum ewigen Frieden einen innovativen Weg ein. Seinem zweiten Definitivartikel zufolge habe die Mannigfaltigkeit der Staaten in einen sogenannten Friedensbund einzumünden, ein föderatives Geflecht souveräner Partikularstaaten, „deren jeder um seiner Sicherheit willen von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann.“[3] Da dieses Modell keine Institutionalisierung (die einem Souveränitätsverlust gleichkäme) vorsieht und auf einen basalen vertraglichen Rahmen restringiert bleibt,[4] untersucht Otfried Höffe in seinem thematisch einschlägigen Aufsatz mögliche Alternativen zu der aus seiner Sicht unzulänglichen Option, für die Kant in seiner Friedensschrift votiert.

In diesem Kontext legt Höffe mit Blick auf die, seiner Auffassung zufolge marginalisierte,[5] Thematik internationaler politischer Gerechtigkeit eine viergliedrige Typologie vor. Das Spezifikationskriterium internationaler Beziehungsorganisation liegt hierbei analog zu einzelstaatlichen Verfassungen in der von den Mitgliedern der je höheren Ebene konzedierten Macht:[6] Als am wenigsten invasive Möglichkeit erweist sich der sogenannte Ultraminimalstaat (a), der zwecks Freiheitserhalt – ganz kantisch – keiner institutionellen Ausgestaltung den Weg bereitet. Dieser Konzeption diametral entgegengesetzt findet sich der absolutistische Staat (d), welcher die Freiheit seiner einzelstaatlichen Momente vollends absorbiert hat. Beide Optionen werden von Höffe in Hinsicht auf ihre Eignung qua international satisfaktionsfähige Modelle als defizitär ausgewiesen: Während es dem Ultraminimalstaat sowohl national wie international trotz seines Interimsstatus an der ihm abgehenden Auslegungsinstanz für die Regeln der Kooperation mangelt,[7] so muss der monolithisch konzipierte, absolutistische Staat ein zu beträchtliches Risiko der Despotie bergen.[8]

Ein mittleres Maß an Souveränität und somit auch Verfügungsgewalt wird dem sogenannten Völkerstaat (c) eingeräumt: Ungeachtet der vorgebrachten Einwände hinsichtlich mangelnder globaler Öffentlichkeit und potenzieller Überbürokratisierung spricht nach Höffes Auffassung zunächst kein prinzipielles Argument gegen ihn, wenn den Risiken Einhalt geboten werde.[9] Dennoch gelte es die Souveränität der Einzelstaaten zu priorisieren und dem supranationalen Gefüge lediglich eine Funktion der Friedenssicherung zuzubilligen:[10] Ein dergestalt konzipierter Minimalstaat (b) genügt den Erfordernissen einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft und enthält sich zugleich umfassender Interventionen in andere, den Einzelstaaten zufallende Rechtsgebiete. Jene Einzelstaaten verfügen analog zu den Bürgern als Individuen ihrerseits über ein „Menschenrecht von Staaten“[11], das ihre territoriale Integrität dank vollumfänglicher Anerkennung bei gleichzeitiger Autonomie in übrigen Belangen gewährleistet.[12]

Wenngleich Höffe diese Strukturen auch in den Vereinten Nationen vorfindet und für ihren Ausbau optiert, wo sie die Gleichbehandlung der Einzelstaaten befördern, so neigt er ebenso zu der Ansicht, dass es mit den genannten Befugnissen auch sein Bewenden haben müsse: In Hinsicht auf eine globale Sozialstaatlichkeit etwa könne zwar kooperiert, aber nicht mit Zwang operiert werden.[13] Mit Blick auf die Schrift Zum ewigen Frieden lässt sich also festhalten: Kant ging nach Höffes Dafürhalten nicht weit genug, anstatt des rudimentären „Friedensbundes“ den von ihm favorisierten Minimalstaat zu fordern, tat aber ebenso gut daran, auf die Defizite noch weiter reichender Optionen aufmerksam zu machen.


[1] Vgl. bspw. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Hrsg. von H. Klemme. Hamburg: Meiner 1992, 64.

[2] Vgl. ebd.

[3] Ebd.

[4] Vgl. Wolfgang Kersting: „Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit“, in: Roland Wittmann/Reinhard Merkel (Hg.): Zum ewigen Frieden. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, 182.

[5] Vgl. Höffe: „Eine Weltrepublik als Minimalstaat“, in: Wittmann/Merkel (Hg.): Zum ewigen Frieden, 155.

[6] Vgl. ebd., 158.

[7] Vgl. ebd., 159; 167.

[8] Vgl. ebd., 160.

[9] Vgl. ebd., 163 f.

[10] Vgl. ebd., 165.

[11] Ebd., 166.

[12] Vgl. ebd.

[13] Vgl. ebd., 168 f.

Primärtexte:

Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Hrsg. von H. Klemme. Hamburg: Meiner 1992.

Höffe, Otfried: „Eine Weltrepublik als Minimalstaat“, in: Wittmann/Merkel (Hg.): Zum ewigen Frieden. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, 154–171.

Sekundärtext:

Kersting, Wolfgang: „Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit“, in: Wittmann/ Merkel (Hg.): Zum ewigen Frieden. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, 172–212.

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