Afrika auf bald!

Liebe Geneviève,

nach einem dieser unendlich erfüllenden Tage senkt sich die Sonne nieder. Ihre Strahlen reichen noch einmal in alle Richtungen, wie die starken Arme eines unbeholfenen Riesen, der einfältig den Abgrund hinter sich übersieht und den es in die dumpfe Leere reißt. Allerhand Tiere geben Geräusche von sich, wilde, domestizierte, nie gesehene?

Eigentlich war ich abgeneigt, die Außenwelt auf dem alten Kontinent von mir und meinem Dasein hier im Nichts zu unterrichten. Doch nun ist dem anders: Seitdem die jüngsten Ereignisse zu meiner Kenntnis gelangt sind, kann das Leben dort oben nicht einfach der Vergessenheit anheimfallen. Mein gespaltener Geist strebt zurück nach Europa!

Ich musste schon ein beträchtliches Maß an Mut aufbieten, um überhaupt zur Feder zu greifen. Stets brachte ich zwar denen meine Hochachtung entgegen, die sich meisterlich auf das Schreiben verstanden, denen spielend gelang, wozu ich außerstande war – aber nie hatte ich mich selbst genötigt gesehen, dem Verfassen von eigenen Texten, die keinem ohne Weiteres ersichtlichen Gebrauchszweck unterliegen, einen signifikanten Wert zuzuerkennen. Weder bin ich kreativ noch ruft diese Tatsache in mir erhebliches Unbehagen hervor. An diesem Gesichtspunkt pflegten sich bis jetzt meine Vernunft und meine Reife zu bemessen. Nach allem aber, was sich begeben hat, muss ich dem Geschehenen Rechnung tragen, durch Veränderung. Ich möchte Dich bitten, die nachstehende Geschichte unserem treuen Freund Kaspar zu überantworten, da sie ihm zugeeignet ist und ich nicht den Wunsch hege, ihn weiter über mein Verbleiben im Unklaren zu lassen. Folgendes möge ihm ein Licht sein.

Und jetzt sei ganz lieb gedrückt! Nur das Beste wünscht Dir

Anastasia

Anhang:

Es war nicht auszuhalten, jeder weitere Schritt schien ihn angesichts der Gluthitze mehr in die Knie zu zwingen. Von seiner Erschöpfung gezeichnet betrat Kaspar das Flughafengebäude wie jeden Freitag, um sich als bekannter Besucher durch die bis zu sterilem Glanz aufpolierten Gänge zu schleppen, um abermals mit den üblichen Leuten zu verkehren, um zu konversieren, sein Mahl einzunehmen und schließlich seinen Platz mit Aussicht auf das gesamte Landefeld zu belegen. Gleichmütig streifte sein kühner Blick über die akkurat aufgereihten Maschinen, die am Boden befindlichen Arbeiter, denen diesmal ihr Wasserschlauch abhandengekommen war, sodass sie ihn – der zitternd umherspringend alles und jeden bewässerte – nur halbherzig wieder unter Kontrolle zu bringen suchten. Sie labten sich am kühlen Nass. Ihr Beobachter hingegen richtete sein Augenmerk auf den Himmel, wo er vergeblich dem ersehnten Flugzeug mit dem augenfälligen Logo auf dem Rumpf nachspürte. Auch diesmal würde sie nicht wiederkommen.

Nachdem die übliche Stunde abgelaufen war, trank Kaspar sein Glas aus und begann sich zu erheben. Der Klang einer ankommenden Maschine drängte an seine Ohren. Schlagartig machte er kehrt, um doch nur enttäuscht zu werden – das war sie nicht. Zunehmend niedergeschlagen bewegte er sich in Richtung Ausgang, als es ihm von der anderen Seite der Glastür höflich, aber mit der professionellen Bestimmtheit einer Flugbegleiterin entgegenrief:

„Nächstes Mal sollten Sie sich des Flugplans bedienen! Dann bleiben böse Überraschungen aus.“

Im Innern des Gebäudes stand ihm ein junges Mädchen gegenüber, in eine blauweiße Uniform gewandet, fast stereotyp, wie eine dieser Schaufensterpuppen aus dem Flugmuseum. Sie konnte nicht der schnöden Alltagswelt angehören, sondern musste gerade für diesen Moment aus dem Nichts erwachsen sein. Gleich einer Manga-Prinzessin blickte sie mit ihren tiefen großen Augen klischeehaft in die seinen. Sie flanierten einen Augenblick und schwiegen.

„Ich weiß doch“, bekundete sie, „dass es Ihnen nicht gut geht. Was in aller Welt muss sich zugetragen haben, dass Sie so oft einsam hier Ihre Runden ziehen, um das Schicksal herauszufordern? Es schmerzt uns allen in der Seele, einen jungen und adretten Herrn dergestalt ermattet zu sehen.“

Wer waren denn „wir“? Die Menschen am Flughafen? Als sie einen Gang passierten, der vollständig mit blitzenden Glasfronten ausgekleidet war, schien das junge Mädchen kurz zu verschwinden. Alles war gleißend hell.

„Erzählen Sie, mein Freund, erzählen Sie, lassen Sie es los!“

Kaspar nahm Platz bei Gate 5, beobachtete, wie das Licht seine Farbspiele mit ihm trieb, und begann zu erzählen. Nicht, dass es ihm viel Freude oder Erleichterung bereitet hätte. Es schien sich einfach anzubieten. Also sprach er unbedarft melancholisch:

„Was sich zugetragen hat, ist von keinerlei Bedeutung für irgendjemand anderen als mich. Es ist kein existenzieller Konflikt, kein Dilemma der Menschheit, sondern dergestalt profan, dass es regelmäßig dem Spott der anderen anheimfällt. Vier lange Monate sind verstrichen, seitdem ich sie zuletzt gesehen hatte. Wir wollten gute Freunde bleiben, so hatte sie zumindest floskelhaft gelobt. Wer hätte denn ahnen können, dass sie derart das Weite suchen würde, auf unbestimmte Zeit? Das ließ sich mir nicht begreiflich machen: Selbst wenn ich sie irgendwann einmal wiedersehen würde, die Magie des Augenblicks war unwiederbringlich veräußert. Schon seinerzeit blickte ich sehnsüchtig zurück zu einem Ereignis, das sich erst noch begeben musste! War es das, was man bisweilen Nostalgie 2.0 zu nennen pflegte? Nostalgie, die nicht mehr Vergangenes, sondern Bevorstehendes betraf? Sei’s drum.

Dessen ungeachtet hastete ich an jenem Frühlingsmorgen die Treppen des Flughafens hinauf, die Glasgänge entlang, passierte die zusammengeballten Menschentrauben an den Terminals, die Händler, alles, nur um sie zu verabschieden.

Es war ein unwirkliches Gefühl, mit ihr und ihrer Familie die Gänge zu passieren. Ihre Überseekoffer stolperten auf den glänzenden Kacheln wie auf unebenem Schotter und gaben nervtötende Geräusche von sich. Massen vor uns, Massen hinter uns. Ich verlor mich in meinen Gedanken. Einstweilen gelang es immer mehr ahnungslosen Störern, sich zwischen mich und sie zu drängen. Unsäglich schmerzte jeder Schritt, den ich in Richtung Trennung tat. Dass wir sie ausnahmsweise bis zum Einstieg in den Sicherheitsbereich begleiten durften, schien dieser Pein nicht den mindesten Abbruch zu tun. Sie wurde nur in die Länge gezogen und an jeder Instanz unseres Weges verschärft. Weiter und weiter drangen wir in das Gebäude vor. Sie sprachen miteinander über Zukunft, besseres Leben, wiederholten das Mantra, bedienten das Narrativ der in jeder Hinsicht überbeanspruchten Europäerin, die nun das Weite suche, um in Afrika, Asien oder sonst wo einen neuen Geist zu erlangen. Doch bei ihr war es anders – was nicht zuletzt daraus erhellte, dass sie gar keine Rückkehr in Betracht zog. Alles hier würde weiter in gewohnten Bahnen laufen, sich unablässig perpetuieren, dabei jedoch seines Glanzes entbehren. Ich, der ich mich – wenn überhaupt – zum Teil ihres alten Lebens degradiert sah, vermochte nicht wirklich am Gespräch teilzuhaben. Ich wäre es, der zurückbliebe, der den Riss in seiner Seele in Ermangelung ihrer wohltuenden Gegenwart nicht würde schließen können. Sie wäre es, der sich das neue Leben eröffnete, die niemals auch nur ansatzweise so etwas wie einen Riss in ihrer ehrgeizigen Seele zu verwinden hatte.

Als wir die in der weiten Halle aufgespannten schwarzen Bänder an ihren lächerlich klapprigen Plastikaufstellern erblickten, kamen wir zum Stehen. Die Verabschiedung nahm ihren Lauf. Das erste Mal in meinem bewussten Leben konnte ich meine Tränen nicht in Schranken weisen. Auch sie weinte, vermutlich allerdings aus dem Taumel ihrer Anspannung heraus. Die letzte Umarmung, so erfüllend und doch so unentwegt flüchtig. Mach’s gut, Kaspar! Du auch, Anastasia!  Noch einmal wandte sie sich zuversichtlich lächelnd zu uns um, ehe sie hinter einer weiteren Glastür verschwand. Lange suchte ich ihr nachzusehen, vergeblich. Wir begaben uns zur Plattform, dem Start beizuwohnen. Hinweg flog sie.“

Seine Tränen brachen erneut hervor, sodass ihm die Begleiterin sorgsam ein Taschentuch reichte, das er verzweifelt ausschlug.

„Seitdem streife ich durch diese Hallen, vergessen und verschollen, in der eigenbrötlerischen Hoffnung, bei ihrer Rückkehr zugegen zu sein.“

Liebe Geneviève,

was in aller Welt mag dieses Konvolut bedeuten? Zu viel erzählerische Verschränkung. Für mich unterliegt es keinem Zweifel, dass das von Dir Dargestellte jenseits des Geschehenen angesiedelt werden muss. Niemals würde Anastasia einfach einen solchen Brief abfassen, eine solche Geschichte, die mir „ein Licht sein“ solle – von inhaltlichen Unstimmigkeiten ganz zu schweigen. Solcherlei Hin-und-Her sähe ihr gar nicht ähnlich. Diese Tartüfferie ist vielmehr einem Deiner literarischen Experimente zuzuschreiben. Niemals werde ich dem Glauben schenken, ehe sie nicht heimgekehrt ist. Spanne mich nicht auf die Folter. Was hast Du mit ihr gemacht? Geschichten dringen in mein Leben ein und machen es sich untertan – und ich weiß mich dieser Arglist nicht zu erwehren, ohne niedergerungen am Boden zu kauern. Wenn Du Dich zu der Auffassung bekennst, mit solch profaner Prosa ließe ich mich abspeisen, dann liegst Du aber gehörig falsch!

Schreibe mir möglichst bald oder ich werde mich selbst auf die Suche machen müssen!

Kaspar

Hierbei handelt es sich um einen fiktionalen Text, der als solcher zu behandeln und den allgemein anerkannten Grundsätzen gemäß zu lesen ist.

Foto: privat