Das Verbrechen

Es hatte sich vielleicht schon seit der frühesten Kindheit vorbereitet. Wurde über die Traumata der Schuljahre, die nicht alle etwas mit Rosenkohl zu tun hatten, verstärkt; durch romantische Krisen und eheähnliche Zustände der Studienzeit katalysiert; und gelangte schließlich, unabwendbar, zum Ausbruch. Rückblickend fallen einem Ursache und Wirkung natürlich leichter ins Auge. Mehrere Freunde vermuten bis heute, es sei aus einer rebellischen Grundhaltung heraus geschehen, die angeboren, und dass der Vorfall daher unausweichlich gewesen war. Früher oder später musste so etwas ausbrechen. Ich will ehrlich sein, in der ersten Person schreiben und hier mein Geständnis ablegen: Ich habe während einer Aufführung in der Volksoper keine Maske getragen.

Warum ich das tat, kann ich auch heute nur schwer erklären. Womöglich, weil ich einfach einige Augenblicke lang frei atmen wollte. Gewiss, wird man einwenden, ist das in dem Dunst hunderter Opernbesucher, in dem sich allen Abendgarderoben zum Trotz Schweiß mit Mundgeruch und allzu fruchtigen Parfums mischt, eine vollkommen unrealistische Aussicht. Aber dennoch: Ich habe es getan.

Die Zauberflöte wurde gegeben. Es war in Wirklichkeit ein anderes Stück, aber ich habe den Namen aus Gründen der Sicherheit und Anonymität geändert. Es geschah in einer Loge, die ich mir aufgrund einer großzügig bewilligten Corona-Beihilfe leisten konnte, und die zudem aus hygienischen Gründen von allen anderen Gästen, mit denen ich nicht verwandt war, frei bleiben musste. Nicht gerade widerwillig fügte ich mich in mein Schicksal. Und so nahm es seinen Lauf.

Dort tat ich es. Vorsätzlich, das ist bei einer solchen Entscheidung nicht abzustreiten. Aber nicht mit mehr oder weniger böser Absicht, als man einem dreifach Geimpften auch in vergleichbaren Situationen unterstellen kann. Dabei fing alles ganz anders an:

Ich war etwas früher gekommen und hörte schon jetzt aus dem noch fast leeren Saal – auch die Musiker waren noch nicht erschienen – unendlich leise die ersten Takte der Ouvertüre. Ein Spuk, war mein erster Gedanke. Die Geister eines Dirigenten und seines ganzen Orchesters, die bis in alle Ewigkeit dazu verdammt waren, hier allabendlich immer wieder die gleichen Takte der Zauberflöte zu spielen. Dabei war es noch nicht mal sieben Uhr. Ein Blick über die Brüstung entzauberte das Opernhaus jedoch: Ein älteres Ehepaar schaute sich auf ihrem Handy vorsichtshalber schon die Musik an, die in nicht einmal einer halben Stunde vor ihren Augen – und Ohren – einsetzen würde. Ich lehnte mich zurück und vertiefte mich in den Lyrikband einer befreundeten Autorin.

Es sitzt sich recht bequem, vorne in der ersten Loge des zweiten Balkons, und man kann direkt in das Orchester hinuntersehen, das inzwischen eingetroffen war. Leider trugen sämtliche Violistinnen hochgeschlossene Kleider. Ob sie wirklich hübsch waren, konnte ich ausschließlich von ihren Mittelscheiteln ausgehend nicht beurteilen. Endlich kam der weiß befrackte Dirigent, wir alle applaudierten brav, wie es sich gehört, obwohl wir keine Ahnung hatten, ob der Mann überhaupt gut war, und die Musik setzte ein.

Im Schutze der Dunkelheit tat ich das bereits Zugegebene, und keine Viertelstunde später – ich schmunzelte gerade über Papagenos muntere Vogelfänger-Arie – da ging die Türe hinter mir auf und ein Aufseher, der den gesamten Rahmen ausfüllte, mahnte mich an die Maskenpflicht. Ich konnte ihn trotz seines düsteren Mundschutzes tadellos verstehen. Also legte ich meinen eigenen wieder an, er bedankte sich, und schloss die Tür.

Das war’s auch schon, viel mehr ist nicht geschehen. Aber es war eben doch noch nicht vorbei, eigentlich begann es jetzt erst. Denn wer aus dem gesamten, nicht voll besetzten Haus hatte mich verpfiffen? War es die Familie nebenan? Es konnte auch in den sauber angeordneten Zuschauerschachteln gegenüber jeder gewesen sein. Jeder! Oder jemand von den Rängen. Oder jemand im Parkett. Aber wie konnten sie mich im Dunkeln sehen?

Die Ironie, dass zwar das Publikum bemaskt sein musste, aber weder die Musiker noch, selbstverständlicherweise, die Sänger auf der Bühne wurde mir in diesem Moment besonders deutlich. Ich fühlte mich jedenfalls nicht mehr wohl, dort in diesem Tempel der Kunst, wenngleich ich auch von der Masse der verräterischen Zuhörer abgetrennt war.

In der Pause verhinderten erhebliche Hemmungen, dass ich so ungezwungen wie gewöhnlich die Waschräume aufsuchte, und stürmte erst mit dem zweiten Läuten in einiger Eile dorthin. Unterwegs mied ich die Blicke der mit einem Glas Sekt in der Hand Plaudernden, die ganz unschuldig taten, und wenn es sich nicht vermeiden ließ, schienen sie – wie auch später draußen auf der Straße – voll Tadel auf mich gerichtet zu sein. Schließlich hätte es jeder – jeder! – von ihnen sein können. Dass es sie Aufsicht selbst bemerkt haben konnte, glaubte ich nicht. Dafür war es zur Zeit der Tat zu dunkel. Außerdem war es deutlich spannender, wenn auch nicht angenehmer, sich einer ins Paranoide schweifenden Phantasie hinzugeben.

Erst gegen Ende der Vorstellung erhielt ich Aufschluss. Nachdem sich der Vorhang bereits zum ersten Mal gesenkt hatte, sah ich ganz deutlich, wie eine Klarinettistin, deren Brillengläser böse blitzten, zu mir hinauflinste, mit einer Kollegin sprach, und tatsächlich mit dem Finger auf mich zeigte. Dort unten also: eine Musikerin war es gewesen! Das Publikum war unschuldig. Ich wollte mich bei sämtlichen Zuhörern entschuldigen, doch das hätte zuviel Zeit beansprucht.

Sie hatte auf mich gewiesen – oder auf eine der sechs anderen Logen in meiner unmittelbaren Umgebung. Vielleicht wollte sie auch nur zur seitlich angebrachten Beleuchtung etwas sagen. Wie dem auch sei: Als der Vorhang sich wieder hob, ernteten diesmal auch die Tänzer reichlichen und wohlverdienten Applaus. Dabei nickte eine Tänzerin des slowakischen Nationalballets, die ich im Laufe des Abends bewundert hatte, zu mir hinauf. Es konnte kein Missverständnis geben. Aber militärisch, korrekt, wie um zu bestätigen, dass ich mich auch an die Regeln hielt.

Zu mir – oder zu einem der sechs Logen in meiner Nähe, in der sich vielleicht ihre Angehörigen oder Freunde befanden. Aber irgendein Spießbürger musste mich doch da draußen verraten haben! Ich ging früh nach dem Applaus, um nicht vielen Leuten begegnen zu müssen, nur um draußen von einer Dame um die fünfzig angebrüllt zu werden: „Dös is an Bürgersteig und kan Parkplatz!“

Ich schaute sie verwundert an und stellte fest, dass sie ein Taxi meinte, das tatsächlich eben einige Leute vor ihr aufgenommen, obwohl sie zuerst gewunken hatte. Rasch ging ich zu meinem Fahrrad, schwang mich hinauf und fühlte mich erst wohl, als ich, schnell in die Pedale tretend, diesen Ort der Schmach immer weiter hinter mich ließ.

Und jetzt? Ich schwanke zwischen einer feierlichen Verbrennung all meiner Mund-Nasen-Schütze, wenn das der richtige Plural ist, und der Nachbestellung einer Zwanzigerpackung FFP2-Masken – aber die aus Stoff, die es anscheinend nur in Innsbruck gibt; und mit extralangen Schlaufen, damit die Ohren nicht so abstehen. Sicher ist nur, dass die Pandemie meine Einstellung zur Gesellschaft für immer verändert hat.