Im Wettlauf mit der Zeit
Die Zeit ist ein merkwürdiges Phänomen. Sie lenkt und diktiert jede Sekunde unseres Alltags. Ständig fragen wir uns, wie spät es gerade ist. Überall haben wir Uhren, um uns zu orientieren und uns nach der Zeit richten zu können. Morgens weckt uns der Wecker zu einer bestimmten Uhrzeit, damit wir in Ruhe aufstehen können und dann rechtzeitig bei der Arbeit oder in der Uni ankommen. Abends rechnen wir aus, wie viele Stunden Schlaf uns noch bleiben, bis wir wieder aufstehen müssen. Wir haben Kalender, um einen Überblick über unsere Termine zu behalten und unsere Zeit vorauszuplanen. Fast alles, was wir tun, tun wir im Hinblick auf die Zeit.
Die Zeit kontrolliert uns. Fortwährend und ohne Pause. Und doch versuchen wir Menschen immer wieder, selbst das Steuer in die Hand zu nehmen und die Zeit zu kontrollieren. Aber sie ist so ungreifbar, dass sie uns immer wieder durch die Finger gleitet. Wir verschlafen den Wecker, wir kommen zu spät zu Terminen, wir vergessen Geburtstage… Die Zeit läuft uns davon und wir laufen ihr hinterher, versuchen jedes Mal aufs Neue, sie einzufangen. Wir halten an vergangenen Momenten fest, machen Fotos, schreiben Tagebuch, behalten Dinge, die uns an Orte erinnern, an denen wir einmal waren… Aber wirklich „bleiben“ tut nichts von alledem, wenn man mal darüber nachdenkt. Denn die Vergangenheit ist die Vergangenheit. Wir können uns zwar an schöne Zeiten erinnern und uns Geschichten von früher erzählen, aber wirklich existieren tut die vergangene Zeit nicht. Genauso wenig wie die Zukunft, welche wir zwar planen und uns ausmalen können, aber sie niemals wahrnehmen können, denn sobald wir uns in der Zukunft befinden, ist sie schon wieder zur Gegenwart geworden.
Was ist Zeit dann überhaupt? Nur ein in unseren Köpfen existierendes menschliches Konstrukt? Gibt es einen Unterschied zwischen Zeit und Uhrzeit? Ein sorbisches Sprichwort lautet „Die Uhr kann stehenbleiben, die Zeit geht weiter.“ Albert Einstein sagte „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.“ Die Zeit selbst lässt sich in keiner Form definieren oder fassen. Mit Uhren versuchen wir lediglich, sie zu messen und sie auf eine sichtbare Ebene zu bringen. Ebenfalls von Einstein stammt die allseits bekannte Relativitätstheorie, in der er die drei Raumdimensionen mit der Zeit zu einem vierdimensionalen „Raum-Zeit-Gefüge“ verknüpft. Der Autor H.G. Wells beschreibt in seinem Roman „Die Zeitmaschine“ (1895) die Zeit ebenfalls als eine vierte Dimension, in der sich der Protagonist des Buches mithilfe einer Zeitmaschine vor- und zurückbewegen kann. Eine weitere Definition von Zeit gibt uns letztendlich das Meyerische Enzyklopädische Lexikon von 1886: „Zeit ist das empfundene Nacheinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“
Wie kommt es außerdem, dass Zeitempfinden so subjektiv ist? Eine halbe Stunde für mich kann sich ganz anders anfühlen als eine halbe Stunde für jemand anderen. Wir alle nehmen immer wieder wahr, wie sehr sich unser Zeitgefühl mit fortschreitendem Alter verändert. Ich kann mich noch gut an meine Kindheit erinnern: Wenn im September oder im Oktober feststand, wohin es im nächsten Sommer in den Urlaub gehen würde, dann habe ich immer ungeduldig ausgeharrt und darauf gewartet, dass diese endlos lange Zeit bis zum Sommer endlich vorübergehen würde. Ich war immer ein geduldiger Mensch, nur das unglaublich lange Warten auf die Urlaube habe ich gehasst. Aber Vorfreude ist doch die schönste Freude, haben mir alle gesagt. Nein… Ich habe immer widersprochen und mich mit meiner besten Freundin darüber ausgelassen, dass das doch gar nicht stimme. Der Moment, wenn es endlich so weit ist, sei doch viel schöner als die Vorfreude und das Warten darauf. Ob das vielleicht tatsächlich mit dem veränderten Zeitempfinden zu tun hat? Als Kind schlich die Zeit vor sich hin, ein Jahr hat sich angefühlt wie eine Ewigkeit. Heute sitze ich an Silvester da und denke mir, puh, schon wieder zwölf Monate vorbei – fühlt sich an, als hätte das Jahr gerade erst begonnen. Ich gebe zu, so langsam fängt der Satz „Vorfreude ist die schönste Freude“ fast an, ein bisschen Sinn zu machen. Denn wenn es endlich einmal so weit ist, dann ist es fast schon wieder vorbei.
Wie schon gesagt, die Zeit ist ein merkwürdiges Phänomen. Sie ist allgegenwärtig, und doch so ungreifbar. Wir können sie nicht anhalten, geschweige denn verlangsamen oder beschleunigen. Sie läuft nach ihrem eigenen Tempo. Was wir aber tun können, ist sie zu genießen. Und uns darüber zu freuen, dass sie uns jeden Tag erneut 86400 Sekunden schenkt, die wir nutzen und uns einteilen können, wie wir möchten. So sehr die Zeit uns auch einschränken und kontrollieren mag – am Ende sind wir es, die sie füllen müssen.