„The Promised Neverland“ – zwischen dystopischen Alptraumkreaturen und freundschaftlicher Sehnsucht nach Selbstentfaltung

Norman, Emma und Ray leben mit vielen anderen Kindern sowie ihrer Pflegemutter Isabella in einem Waisenhaus. Alle tollen unbeschwert auf dem eingehegten Areal herum. Immer wieder begibt es sich zwar, dass Kameradinnen oder Kameraden ihre Geschwister plötzlich verlassen müssen, da für sie Adoptiveltern gefunden worden seien. Daran hegt aber niemand Zweifel. Nur, dass keines der adoptierten Kinder von sich hören lässt, scheint etwas merkwürdig – ebenso wie die Tatsache, dass alle unter ihnen spätestens nach dem zwölften Geburtstag Abschied nehmen. Conny, ebenfalls adoptiert, sagt den anderen hoffnungsvoll, wie üblich in Begleitung Isabellas, Adieu, vergisst aber ausgerechnet ihren geliebten Plüschhasen; Norman und Emma beschließen kurzerhand, ihn ihr nachzubringen.

Was sich jedoch am Ausgang des Geländes vor ihnen abspielt, lässt sie sprachlos zurück: Die gerade noch lebensfrohe Conny wird von ihrer Mutter an zwei furchteinflößende humanoide Monster als „Ware“ ausgeliefert. Eine schillernde Lebensidylle hat sich als dystopische Todesillusion erwiesen – denn in Wahrheit gibt es gar keine Waisenkinder, sondern sie werden allein zu dem Zweck geboren und aufgezogen, finsteren Wesen als Nahrungsmittel zu dienen. Schock und Trauer sitzen tief, dennoch fassen die Heranwachsenden den Plan, zusammen auszubrechen und nach anderen Menschen zu suchen. Ein fesselndes Katz-und-Maus-Spiel beginnt mit ungewissem Ausgang: Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Flucht gelingt, wissen die Protagonisten nichts über die Welt, welche sich hinter der Mauer um das waldige Areal ihrer „Heimat“ befindet.

Die auch als Anime adaptierte Manga-Serie The Promised Neverland bietet neben strategischen Herausforderungen zum Mitdenken starke Dialoge, konsternierende Enthüllungen und an Spannung kaum zu überbietende Schlüsselszenen, die nichts weniger als das Verständnis dessen tangieren, was wir selbst sind oder zu sein vermeinen. Die menschliche Welt, wie wir sie kennen, wird im Rahmen der Geschichte gehörig auf den Kopf gestellt und immerfort neu perspektiviert. Auf konstant hohem Reflexionsniveau eröffnet das Überlebensabenteuer der strategisch talentierten Protagonisten Standpunkte jenseits unseres Alltags und lädt auch zum Überdenken anwendungsethischer Problemfelder ein – wie beispielsweise der Massentierhaltung oder der Konfliktforschung. Nicht zuletzt wird offenbar, mit welchen Schwierigkeiten ein harmonisches Zusammenleben verschiedener Spezies einhergeht und wie sich dem mit allen zu Gebote stehenden Möglichkeiten abhelfen lässt.

Eine gute Nachricht bleibt: Der Schlüssel zum Erfolg und zum Erreichen eines kaum begreiflichen Zieles liegt in unseren Händen, nämlich in den Banden der Freundschaft. Wer sie zu pflegen und leidenschaftlich durch Zeiten größter Gefahren zu führen weiß, dem erschließt sich eine Welt, für die und in der es sich wahrhaft zu leben lohnt. So verfügt die Geschichte nicht nur über höchste Spannung, größte Authentizität und tiefste emotionale Berührung, sondern gibt auch Werte zu erkennen, deren Anerkennung, geschweige denn Kultivierung, dieser Tage nicht mehr für selbstverständlich gilt. Obzwar pädagogische Komponenten dieser Art nicht immer den gewünschten Effekt zeitigen, so kann der in The Promised Neverland erhobene Anspruch ohne weiteres als eingelöst betrachtet werden: Was hier zum Bewusstsein gelangt und zur Disposition steht, ist unsere eigene Lebensweise mit ihren Tiefen und Tücken – sowie die unlängst hervorbrechenden Seiten des Anderen: dessen, was es braucht, um unsere Welt als solche am Leben zu halten und im literalen Sinne „mit Nahrung zu versorgen“. Hierüber bei der Lektüre in erzählerisch wie künstlerisch höchst ansprechendem Panorama kritisch nachzusinnen ist vorbehaltlos zu empfehlen.

The Promised Neverland ist nach japanischer Erstveröffentlichung 2016 auch auf Deutsch bei Carlsen Manga erschienen und umfasst 20 vergleichsweise dünne Bände, die keinen allzu großen Leseaufwand erfordern.

Foto: privat